Die letzte Woche hat schön demonstriert, warum die Tradition der Extrablätter ausgestorben ist.
Wenn man am letzten Freitagmorgen die Zeitung aufschlug, dann war die Welt in Ordnung. Es gab nur ein paar kleinere Probleme.
Schweiz ohne Stau ist Illusion, war die Schlagzeile des Blick. Fische leiden unter den Pestiziden, titelte die Berner Zeitung. Wermutstropfen für die Industrie, war der Aufmacher der Basler Zeitung.
An diesem problemlosen Freitagmorgen war es seit dem Terroranschlag von Nizza neun Stunden her. In den Schweizer Zeitungen stand darüber kein Wort.
Noch vor fünfzehn Jahren wäre ein solch kollektiver Informationsstopp in den Zeitungen undenkbar gewesen. Die Redaktionen hätten nachgeschoben, wie man dem sagt. Sie hätten morgens um zwei die Maschinen angehalten und die Druckplatten ausgewechselt. Ein guter Teil der Leser hätte am Freitagmorgen damit eine aktualisierte Ausgabe zum Großreignis bekommen.
Das taten diesmal die wenigsten. Die NZZ (Lastwagen rast in Menschenmenge) und der Tages-Anzeiger brachten die News für eine Teilauflage noch auf die Front.
Heute wird nicht mehr systematisch nachgeschoben. Heute hat man das Internet. Manche Online-Redaktionen arbeiteten in der Nacht von Nizza durch. Die Zeitungsredaktoren hingegen gingen lieber zum Schlummertrunk.
Für die Blätter auf Papier ist das keine gute Entwicklung. Warum soll man eine Zeitung abonnieren, die über Staus und Fische schreibt, wenn zugleich Weltgeschichte geschrieben wird?
Vom Timing her war Nizza das Exempel, warum klassische Zeitungen vor allem für jüngere Leser als Schlafzimmer gelten. Nizza war der Worst Case. Es passierte genau zu jener Tageszeit, wo nichts passieren darf. Am späten Abend verarbeiten Redaktionen nur noch im Voraus planbare Events wie das Penaltyschießen in der Champions League. Sonst resignieren sie.
Nizza ist damit ein Beispiel, wie sich in der digitalen Welt das Selbstverständnis der schreibenden Journalisten verändert hat. In ihrer Geschichte sahen sie sich stets als die Burgherren der Nachrichten. Nun haben sie sich mit ihrer Rolle als Zweite-Klasse-Informanten abgefunden.
Noch vor fünfzehn Jahren hätten manche Zeitungen nach einem Attentat wie in Nizza wahrscheinlich ein Extrablatt produziert und am Freitagmorgen an Bahnhöfen und auf Plätzen verteilt. Extrablätter waren über Jahrhunderte eine Tradition des Journalismus. Sie signalisierten, dass auf die Redaktionen rund um die Uhr Verlass war.
Extrablätter, die tagsüber erschienen, gab es etwa zu den Swissair-Abstürzen in Würenlingen und Halifax, zur Fusion von Bankgesellschaft und Bankverein, zum Zugunglück in Zürich Oerlikon, zu Olympiamedaillen in Atlanta, zu Tschernobyl und zu Bundesratswahlen.
Noch im Jahr 2003, zum Beginn des Irak-Kriegs, warfen der Tages-Anzeiger, die NZZ, der Blick und die Neue Luzerner Zeitung gleichzeitig Extrablätter auf den Markt und verteilten sie auf Straßen, an Haltestellen und in Restaurants. Sie waren ein Zeichen von journalistischem Anspruch und Stolz.
Das gibt es heute nicht mehr. Zeitungen sind nicht mehr extra. Sie brauchen darum keine Extrablätter mehr.
Nach Nizza kam es nur einen Tag später ähnlich schlimm. Der Militärputsch in der Türkei passierte etwas früher als der Anschlag an der Côte und schaffte es darum noch auf die Frontseiten. Türkische Armee verkündet Machtübernahme, titelte der Tages-Anzeiger. Militärputsch in der Türkei, schlagzeilte die NZZ. Putsch in der Türkei!, rief der Blick.
Als die Leser am Samstagmorgen ihr Blatt mit den Putsch-Schlagzeilen in die Hand nahmen, war der Putsch bereits vorbei.
Erstveröffentlichung: Die Weltwoche vom 21. Juli 2016
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Schlagwörter:Extrablätter, Militärputsch in der Türkei, Nizza, Online, Schweiz, Terror, Zeitungen