Die freie Kolumnistin Regula Stämpfli hat auf News.ch ihrer Empörung freien Lauf gelassen: „Journalisten lieben ja normalerweise nichts mehr, als ständig sich selber zu kommentieren, über sich selber zu lesen und sich selber unendlich wichtig zu nehmen. Weshalb tun sie dies ausgerechnet dann nicht, wenn sich endlich 480 Seiten nur mit ihnen, ihrer Arbeit, ihrer Qualität, ihrer Zukunft etc. befassen? Richtig. Weil die knallharten Analysen den Betroffenen nicht passen.“ Das erkläre, weshalb das Jahrbuch 2012 – Qualität der Medien des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich „überhaupt keine Beachtung findet“.
Ganz so schlimm ist es nicht. Ich habe mir von der Stiftung Öffentlichkeit und Gesellschaft, die dieses Jahrbuch nunmehr in dritter Auflage herausgibt, ein dickes Dossier mit der „Medienresonanzanalyse der Ausgabe 2012“ zumailen lassen. Daraus ergibt sich, dass an den Folgetagen der Buchvernissage 22 größere, meist auf der SDA basierende Zusammenfassungen erschienen sind. Es folgten die Abonnementszeitungen mit 12 Beiträgen. Ab Ende Oktober waren es dann vor allem Fachmedien, nämlich Online-Publikationen wie Medienspiegel.ch, die Werbewoche (zweimal ausführlich), persoenlich.com (dreimal; hier, hier und hier), der Klein Report (viermal; hier, hier, hier und hier). Noch etwas später meldeten sich schließlich die Weltwoche (zwei kritische Einschätzungen hier und hier) und die WOZ.
Der Abdruck von − gutgemachten – Résumés der SDA war wohl das Mindeste. Immerhin gelangte so eine Notportion an das Publikum, zumal sich Herr und Frau Schweizer täglich im Schnitt rund drei Stunden dem Konsum von Massenmedien hingeben. Aber auch diese Minimalberichterstattung wurde noch unterschritten. In den Medien der Tamedia, deren starke Dominanz das „Jahrbuch“ mehrmals moniert („Tamediastan“, frotzelte der Medienwissenschaftler Vinzenz Wyss), erschienen nur drei Kurzberichte auf Internetportalen – alle schon am Tag der Vernissage.
Ich erkundigte mich bei Chefredaktor Res Strehle über das Schweigen des Flagschiffs Tages-Anzeiger. Er antwortete mir per E-Mail: Es habe kein Zensurbefehl des Chefredaktors oder gar des Verlegers vorgelegen (Verleger Pietro Supino hatte sich 2010 mit 20’000 Anschlägen in einem langen Magazin-Artikel überscharf vom Konzept des „Jahrbuchs“ distanziert). Aber „offenbar sahen weder der Tagesleiter noch die zuständigen Ressortverantwortlichen eine Berichterstattung als Pflichtaufgabe“. Und der Chefredaktor, der doch zögernden Kollegen manchmal Beine machen muss? Auch er, Strehle, bemängle das „Qualitätsscoring“ des „Jahrbuchs“ und verlasse sich lieber auf das in der Chefredaktion entwickelte Qualitätsraster.
Schade, dass uns diese Alternative im Tages-Anzeiger vorenthalten wurde. Auch aus dem Hause Ringier war kein Pieps einer Diskussion zu hören. Die 60 jungen und alten Medienspezialisten, die monatelang an diesem „Jahrbuch“ werkelten, hätten sich sicher darüber gefreut, kritisch beim Wort genommen zu werden. Im Sonntag erinnerte Christof Moser unter dem Titel „Grossverlag ohne Grösse“ daran, dass Tamedia „die Studie in den letzten beiden Jahren auf allen publizistischen Kanälen bekämpft hat. In diesem Jahr wird sie totgeschwiegen“: Eine Strategie von gestern, folgert Moser.
Eine besondere Blüte trieb noch beim Verband Schweizer Medien: Noch vor dem Studium des „Jahrbuchs“ liess der Direktor des Verlegerverbands, der an der Vernissage dabei war, mitteilen, das fög-Team habe in der Kurzfassung des Bands „ein weiteres mal“ eine Definition des Begriffs „Qualität“ unterlassen. So so. Auf Zeile 8 der Kurzfassung wird die Erkenntnis propagiert, dass „die Qualität der Demokratie von der Qualität medienvermittelter Öffentlichkeit abhängt“.
Auf der nächsten Seite der Kurzfassung folgt dann „das Wichtigste in Kürze“, nämlich eine Reihe von Qualitätsbefunden. Und das „Jahrbuch“ selbst leitet den Qualitätsbegriff auf den Seiten 9 bis 20 sowie methodisch auf den Seiten 377 bis 408 her. Gelegentlich mutet die ausschliessliche Demokratiebezogenheit des fög etwas eng an und erinnert an eine Fibel für staatsbürgerlichen Unterricht aus den 1970er Jahren. Aber genau darüber wäre eine methodische Auseinandersetzung hilfreich – und der Qualitätsschwur des Verlegerverbands glaubhafter als schnöde Diskussionsverweigerung.
Es gibt noch einige weitere Punkte im Band, für die eine Diskussion über ideologische Schranken hinweg sehr fruchtbar wäre. Etwa: Was genau versteht das fög unter einer „staatsfernen Stiftung“, die den Informationsjournalismus fördern sollte? Sind darunter Einrichtungen wie die von amerikanischen Milliardären gegründete Stiftung ProPublica zu verstehen, die bestens funktioniert und bereits Pulitzer-Preise gewonnen hat? Bereits sagt die NZZ – die sich wie das St.Galler Tagblatt verdienstvollerweise auf das „Jahrbuch“ eingelassen hat – diesbezüglich den „erbitterten Widerstand der Medienwirtschaft“ voraus.
Vielfalt der Medientitel oder Vielfalt der Medieninhalte? Hier könnte man über eine echte Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Machern die Kriterien vielleicht noch verfeinern.
„Steigt das Bewusstsein für Qualität, ist eine Zunahme der Zahlungsbereitschaft ebenfalls zu erwarten“, war in diesem Blog kürzlich zu lesen. Gibt es dafür empirische Befragungen? Die deutschen Qualitätszeitungen Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung und Die Zeit behaupten sich jedenfalls bestens (Blum/Bonfadelli/Imhof/Jarren, Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, Wiesbaden 2011). Was lässt sich für die Schweiz daraus ableiten?
Die fög-Forscher misstrauen „episodischem“ und „personalisierendem“ Journalismus. Wie verträgt sich das mit neueren leserfreundlichen und wirksamen Tendenzen des narrativen Journalismus? (Lampert/Wespe, Storytelling für Journalisten, 2. Aufl. Konstanz 2012).
Für die weiteren Jahrbücher fehlt es nicht an Stoff. Grabenkämpfe zwischen wenig kritikfähigen, ertragsversessenen Verlegern und gelegentlich allzu normativ-rigiden Wissenschaftlern bremsen den nötigen Dialog.
Erstveröffentlichung: Medienspiegel.ch am 21.11.2012
Schlagwörter:Echo, Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög), Jahrbuch Medienqualität, Schweiz, Universität Zürich
Gut gebrüllt – einschliesslich der Forderung nach der empirischen Überprüfung der – auch von mir vertretenen – These, dass mit mehr Qualitätsbewusstsein die Zahlungsbereitschaft steigt. Nur: Durch Umfragen lassen sich solche Fragen leider nicht seriös klären – denn das setzte ja ein qualitätsbewusstes Publikum bereits voraus….