Neue Zürcher Zeitung, 1. Januar 2004
Eine Bilanz von Silvio Berlusconis öffentlicher Tätigkeit
Politologen und Kommunikationswissenschafter bewerten in einer italienischen Fachzeitschrift die Bedeutung von Silvio Berlusconi, der nun seit zehn Jahren in der Politik aktiv ist. Die Urteile fallen keineswegs nur negativ aus.
Zehn Jahre ist es her, seit Silvio Berlusconi die politische Bühne betreten und die Politik Italiens umgekrempelt hat. Viel ist seither gesagt und geschrieben worden über diese Wende, den «medialen Staatsstreich», über die Interessenkonflikte des Ministerpräsidenten und Medienmagnaten und über dessen ebenso imposante wie kontroverse Biografie. Die italienische Fachzeitschrift «ComPol» widmet ihm und seiner Partei Forza Italia ein ganzes Heft.* «Wir haben eine Vielzahl bekannter Politologen und Kommunikationswissenschafter gebeten, das, was 1994 geschehen ist, aus der heutigen Perspektive zu betrachten», schreibt Herausgeber Gianpietro Mazzoleni. Der Band besteht aus dreizehn Beiträgen; die Bedingungen, die es Berlusconi ermöglichten, innerhalb weniger Monate eine Partei zu gründen, die Wahlen zu gewinnen und Ministerpräsident zu werden, werden ebenso aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert wie sein Kommunikationsstil und die Rolle, die seine Fernsehkanäle beim Wahlsieg gespielt haben.
Profiteur der politischen Verunsicherung
Mit Berlusconi, so weit sind sich die Autoren einig, habe in Italien eine neue Phase der Personalisierung in der Politik begonnen. Die Verunsicherung in der Zeit nach Tangentopoli, dem grossen Schmiergeldskandal zu Beginn der neunziger Jahre, sei die Voraussetzung dafür gewesen, dass sich eine charismatische Persönlichkeit wie der Cavaliere als Newcomer in der Politik durchsetzen konnte. Einer, der es mit seiner langen Liste unternehmerischer Erfolge, seiner populistischen und prägnanten Art zu kommunizieren sowie mit dem Versprechen von Veränderungen geschafft hat, die Wählerstimmen jener zu mobilisieren, die sich von den traditionellen Mitte- Rechts-Parteien im Stich gelassen fühlten.
Seine Partei Forza Italia habe von Anfang an den Eindruck erweckt, von ihrem Vorsitzenden abhängig zu sein – ein Kunstgebilde, nichts weiter als sein Instrument und seine Wahlkampfmaschine. Mehrere Autoren betonen allerdings, Forza Italia sei in den zehn Jahren seit ihrer Gründung eine eigenständige politische Kraft, ein «politisches Subjekt» geworden. Allerdings sehen auch sie, dass die Partei weiterhin stark von ihrem Chef geprägt werde; parteiinterne Unbeständigkeit und Inkonsequenz würden von seinem Kommunikationstalent neutralisiert. Berlusconi sei es, der einer sonst gespaltenen Partei Identität und Zusammenhalt gebe.
Der Trend politischer Kommunikation gehe, so meint Renato Mannheimer, Politologe an der Universität Milano Bicocca, «in den Industrienationen ohnehin in Richtung Personalisierung und Marketing». Italien steche dabei aber heraus: Berlusconi habe mehr als andere die Sprache der Werbung auf die Politik angewandt, die Diskussion auf ein ihm vertrautes Terrain verlagert und so die Spielregeln der italienischen Politik verändert – und das alles in kürzester Zeit. Sein geschickter Einsatz des Fernsehens, die Differenzierung der Slogans je nach Zielgruppe, die strategische Verwendung von Umfragen und seine präzisen Studien der Stimmungen – mit diesen typischen Marketinginstrumenten sei es Berlusconi gelungen, sein eigenes Produkt, also Forza Italia, auf dem «Wählermarkt» zu positionieren.
«Es ist keineswegs sicher, dass man den Wahlsieg in der Tasche hat, weil man die Fernsehsender kontrolliert», so endet ein Dialog zwischen einem imaginären Professor und seinem Studenten in einem faszinierenden Beitrag von Giacomo Sani. Wie andere italienische Fachkollegen neigt der Ordinarius für Politikwissenschaften an der Universität Pavia dazu, die Rolle des Fernsehens bei Berlusconis Wahlsieg zu relativieren. Berlusconis Wahlschlappe im Jahr 1996 wird noch immer als Beweis dafür gewertet.
Diese Einschätzung teilt auch Angelo Agostini, Medienwissenschafter und Herausgeber der Medienfachzeitschrift «Problemi dell'informazione», in seinem neuen Buch,** das den Sonderweg des italienischen Journalismus analysiert. Schon dessen Titel – «Giornalismi» ist der Plural von «Journalismus» -, der in der italienischen Sprache nicht minder ein Kunstwort ist als im Deutschen, deutet darauf hin, dass er eher die Informationsvielfalt als die Einfalt als Problem wahrnimmt. Reicht Berlusconis Quasimonopol beim Fernsehen, um die öffentliche Meinung in Italien zu kontrollieren? Er beherrscht als Eigentümer die drei wichtigsten Privatsender, und als Ministerpräsident übt er starken Einfluss auf den staatlichen Rundfunk, die RAI, aus. Agostini ist sich des Ernstes der Lage bewusst, glaubt aber, dass vor allem die Presse die Italiener weiterhin mit reichhaltigen Informationen versorgt.
Das Gute im Übel
Die Diskussion der italienischen Medienforscher zu diesem Thema ist noch nicht abgeschlossen, auch im «ComPol»-Sonderheft gehen die Meinungen weit auseinander. Gleichwohl frappiert, wie vorsichtig die Fachleute im Land urteilen – im Vergleich damit, wie Berlusconis mediale Übermacht meist ausserhalb Italiens wahrgenommen wird.
«Am Ende werden wir uns noch bei ihm bedanken müssen», meint Filippo Ceccarelli, Parlamentsberichterstatter, über die Konsequenzen, die Berlusconis Schritt in die Politik für den italienischen Journalismus hatte. Dass er in den Ring gestiegen sei, habe der Politikberichterstattung geholfen, sich von veralteten Interpretationsmustern zu verabschieden, und sie gezwungen, sich weiterzuentwickeln. Indem sich die Redaktionen mit den Kommunikationstechniken Berlusconis, mit der bis dahin unüblichen Art und Weise, Politik zu machen und zu verkaufen, mit seiner auf Bilder und Slogans gestützten Rhetorik auseinandersetzen mussten, seien sie gezwungen gewesen, sich «in Windeseile» an neue Bedingungen anzupassen; sie hätten dadurch einen Rückstand aufgeholt, den es zur Zeit der Ersten Republik gegeben habe. Die Berichterstattung sei jetzt einfallsreicher, vielfältiger und werde eher der Komplexität der Verhältnisse gerecht. «Natürlich», so der Autor, «heisst Fortschritt nicht immer automatisch bessere Demokratie», aber «bis zu einer gewissen Grenze haben manche Übel auch etwas Gutes».
* Sonderheft: Il Grande Comunicatore – Dieci anni di Berlusconi sulla ribalta politica, in: ComPol, Band V, No. 1, Franco Angeli, Milano 2004.
** Angelo Agostini: Giornalismi. Media e giornalisti in Italia. Il Mulino, Bologna 2004.
(Übersetzung: Robert Laber)