Literarisierung als Systemschutz

9. April 2010 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Journalistik Journal 1/2010

Literarische Herangehensweisen im Journalismus sind mehr als nur ein berufsethischer Problemfall – sie helfen der Profession, sich selbst zu erhalten.

Literarischer Journalismus steht – zumindest im deutschen Sprachraum – unter Generalverdacht. Ein allzu freier Umgang mit aus der Literatur entlehnten Gestaltungstechniken, vor allem ein allzu sorgloses Spiel mit Fakten und Fiktionen sei nicht mit den Aufgaben des Journalismus vereinbar, mahnen die Kritiker.
Skandalträchtige Beispiele wie das des Schweizer Autors Tom Kummer, der in den 1990er Jahren unter Berufung auf einen angeblich neuartigen „Konzept-Journalismus“ für das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ Star-Interviews fingierte, geben ihnen scheinbar Recht. Literarisch gestalteter Journalismus wird dabei zum medienethischen Problemfall, den es im Sinne professioneller Standards auszuräumen, keinesfalls aber zu fördern gelte.

Eine solche Sicht der Dinge wird den Potenzialen des gescholtenen Gegenstandes jedoch nicht gerecht. Literarischer Journalismus ist aufgrund seines Formenreichtums nicht nur in besonderem Maße in der Lage, zur Synchronisation und Selbstbeobachtung der Gesellschaft beizutragen und damit die journalistische Primärfunktion zu unterstützen. Durch seine kritische Auseinandersetzung mit etablierten Berichterstattungsmustern erbringt er gleichzeitig auch wichtige Reflexionsleis­tungen für den Journalismus selbst. Gängigen berufsethischen Bedenken zum Trotz wird literarischer Journalismus hier also nicht als Gefahr, sondern als besonderer Schutz für das Funktionieren journalistischer Berichterstattung verstanden. Er ist keine journalistische Fehlentwicklung, sondern ein wertvolles Korrektiv, das durch seine Irritationen zur journalistischen Qualitätssicherung beiträgt. Ähnlich wie andere In­strumente der Medienselbstregulierung (Presseräte, Medienjournalismus etc.) lässt sich literarischer Journalismus damit als journalismusinterne Reflexionseinrichtung beschreiben, die der Profession hilft, sich selbst zu erhalten. Um dies zu veranschaulichen, muss zunächst geklärt werden, was literarischer Journalismus überhaupt ist.

Aus Sicht der Systemtheorie ist literarischer Journalismus ein Subsystem des Systems Journalismus. Ebenso wie sein Muttersystem operiert es nach der Leitcodierung ‚aktuell‘/‚nicht aktuell‘, um der Gesellschaft Themen zur öffentlichen Kommunikation bereitzustellen. Unterschiede machen sich jedoch auf der Programmebene bemerkbar: Während sich Journalismus im Allgemeinen journalismusspezifischer Selektions-, Ordnungs- und Darstellungsstrategien bedient, greift literarischer Journalismus auf Gattungs- und Stilmerkmale des Literatursystems zurück. Dadurch werden die operativen Möglichkeiten journalistischer Gesellschaftsbeobachtung beträchtlich erweitert.

Derartige Verbindungslinien zwischen Literatur und Journalismus sind kaum verwunderlich: Beide Systeme haben gemeinsame historische Wurzeln und grenzen sich erst im Zuge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft voneinander ab. In Deutschland kommt es beispielsweise erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur vollständigen Ausdifferenzierung eines eigenständigen Sozialsys­tems Journalismus mit spezifischen Binnenstrukturen (vgl. Blöbaum 1994). Auch in der Folgezeit inkludiert der Journalismus jedoch immer wieder gezielt literarische Programmelemente, um Limitationen der eigenen Systemstrukturen zu überwinden.

Beispiele dafür sind der US-amerikanische New Journalism der 1960er Jahre, der zeitversetzt auch hierzulande Nachahmer findet, oder der Popjournalismus der 1990er Jahre. Beiden Strömungen ist gemeinsam, dass sie als erklärte Alternative zum dominanten Berichterstattungsmuster des Informationsjournalismus auftreten, das bei der Bearbeitung journalistischer Aufgaben immer wieder an strukturbedingte Grenzen stößt. Dafür kehren sie etablierten journalistischen Darstellungstechniken wie der Nachrichtenform („inverted pyramid“) den Rücken und erproben stattdessen, wie Journalismus mit literarischen Mitteln funktioniert.

Viele Protagonisten des New Journalism etwa beziehen sich dabei auf eine Programmatik Tom Wolfes, der vier spezifische Gestaltungsmerkmale ausmacht, mit denen sich ein besonders emotionaler Journalismus schaffen lasse: die dramaturgische Konstruktion eines Textes durch die Abfolge einzelner Szenen; die vollständige Wiedergabe von authentischen Dialogen; die Einbeziehung einer dezidierten Erzählperspektive; und das Aufzeichnen aller Einzelheiten mit Symbolgehalt in einer Szene, aller Details, die den Status einer Person bestimmen (vgl. Wolfe 1973). Mit diesen Darstellungstechniken will der New Journalism, ähnlich wie andere Ausprägungen des literarischen Journalismus, eine Aufbereitung gesellschaftlicher Themen gewährleisten, die Zusammenhänge herstellt und ihrem Gegenstand sprachlich wie inhaltlich gerecht wird. So soll Journalismus für die Rezipienten auch in einer Zeit dramatischer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse verstehbar bleiben – eine Grundvoraussetzung für die Erfüllung der journalistischen Kernfunktion.

Neben diesen auf die Beobachtung der Gesellschaft insgesamt abzielenden Anliegen fällt jedoch auf, dass literarischer Journalismus immer auch Selbstbeobachtung des Sozialsystems Journalismus ist. Dies kommt in den Beiträgen dieses Berichterstattungstypus manchmal eher implizit zum Tragen, etwa wenn die Autoren als handelndes Subjekt in ihren eigenen Texten auftreten und damit stillschweigend tradierte Standards des Nachrichtenjournalismus durchbrechen. Vielfach formulieren Literarjournalisten jedoch auch explizite Kritik an den etablierten Medien und ihren Mechanismen, die sie bloßlegen und überwinden möchten. Damit entfaltet der literarische Journalismus für das Journalismussystem ein beträchtliches selbstregulierendes Potenzial, das andere Instanzen publizistischer Qualitätssicherung flankiert.

Besonders deutlich wird dies in vielen Beiträgen des US-amerikanischen New Journalism, die ein wesentliches Motiv in der Opposition gegen das arrivierte Prinzip des „objective reporting“ sehen. Sie schreiben offen über berufliche Vorgehensweisen und schildern subjektive Eindrücke, die die Schwächen und Grenzen rein nachrichtlicher Wirklichkeitsvermittlung verdeutlichen (vgl. Haas 2004). Auf diese Weise sorgen sie auch innerhalb der Profession für kontroverse Diskussionen über journalistische Standards und Qualitätskriterien und tragen damit zur Selbstregulierung des Journalismus bei.

Ähnliche Tendenzen sind für die deutschsprachige Variante des New Journalism beobachtbar, die ihren zentralen Antrieb – ebenso wie das US-Pendant – in der Kritik der aus Übersee importierten Objektivitätsnorm findet. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Zeitschrift „Tempo“, dem einstigen Zentralorgan des deutschsprachigen New Journalism, nachweisen. Auch sie kann „als angewandte, als praktizierte Medienkritik verstanden werden (…): Spielerisch und oft mit den Mitteln der Ironie werden hier die Relevanzhierarchien des klassischen Nachrichtengeschäfts variiert“, konstatiert Bernhard Pörksen (2004: 308). Ein weiteres typisches Merkmal des deutschsprachigen New Journalism ist die gezielte Auseinandersetzung vor allem mit der Fernsehwelt und ihren Bewohnern (vgl. Bleicher 2004). Indem sie mit literarisch-journalistischen Techniken analysiert und kritisiert werden, gewinnt die Selbstreflexion der Journalismus- und Medienbranche eine neue Dimension, die letztlich auch systemerhaltende Leistungen vollbringt.

Das medienkritische Potenzial des literarischen Journalismus ist keineswegs nur auf das im engeren Sinne als New Journalism bezeichnete Programm beschränkt. Weitere Ausprägungen finden sich sowohl im jüngeren Popjournalismus als auch in verschiedenen Vorläufern, etwa im Feuilletonismus der Zwischenkriegszeit. Auch die angeführten Beispiele können jedoch bereits belegen, dass literarischer Journalismus mehr ist als nur eine berufsethische Verfehlung. Indem er zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft beiträgt, kann er mit Hilfe adaptierter Arbeitsroutinen die journalistische Primärfunktion unterstützen. Zudem beteiligt er sich an der unerlässlichen Selbstreflexion des Journalismussystems und trägt damit zu dessen Identitätsbildung sowie zur Stabilisierung seiner Umweltbeziehungen bei. Auch aus diesem Grund verdient literarischer Journalismus mehr Aufmerksamkeit – auch in der Journalismusforschung.

Literatur:

  • Bleicher, Joan Kristin (2004): „Sex, Drugs & Bücher schreiben“. New Journalism im Spannungsfeld von medialem und literarischem Erzählen. In: Bleicher/Pörksen 2004, S. 126-159.
  • Bleicher, Joan Kristin/Pörksen, Bernhard (Hrsg.) (2004): Grenzgänger. Formen des New Journalism. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Blöbaum, Bernd (1994): Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Haas, Hannes (2004): Fiktion, Fakt & Fake? Geschichte, Merkmale und Protagonisten des New Journalism in den USA. In: Bleicher/Pörksen 2004, S. 43-73.
  • Pörksen, Bernhard (2004): Die Tempojahre. Merkmale des deutschsprachigen New Journalism am Beispiel der Zeitschrift Tempo. In: Bleicher/Pörksen 2004, S. 307-336.
  • Wolfe, Tom (1973): The New Journalism. With an anthology edited by Tom Wolfe and E. W. Johnson. New York: Harper and Row.

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