Der Journalismus wird persönlicher, das totgesagte Ich lebt auf. „Anne Will“, „Beckmann“, „Günther Jauch“, „Maybrit Illner“, „Peter Hahne“, „Kerner“ – in Fernsehtalks ist die Personalisierung längst üblich, allmählich nimmt sie auch in anderen Formaten zu.
Offenbar mit Gewinn: „Die Zeit“, „brand eins“, „Cicero“ – gerade dort, wo trotz Krise Lesereinbrüche ausblieben, ist der Journalist als handelndes Subjekt sehr präsent. All das ist gut so. Wer Qualitätsjournalismus anbietet, muss zur Marke werden.
Das Publikum soll wissen, wo einer steht und wofür, und dem Produkt vertrauen: der Information, dem Kommentar, der Geschichte.
Die Blogosphäre gab uns die Erzählfreude zurück, das Internet zwingt uns, unser Publikum vor dem Ertrinken in Informationsfluten aus professionellen und nicht-professionellen Quellen zu retten, Leuchttürme sind gefragt: Journalisten, die aufmerken lassen, indem sie Orientierung anbieten, Verortung. Ein zukunftsorientierter Markenjournalist setzt Themen, trennt Relevantes vom Banalen, wird zum Guide und Sinn-Macher in einer unübersichtlich gewordenen Welt, die er uns erklärt. Aus seiner Sicht.
Durch den Medienwandel wird diese journalistische Haltung notwendiger denn je, neu ist sie nicht.
Für den Stil des 2003 verstorbenen Journalisten Herbert Riehl-Heyse erfanden Medienforscher die schöne Wendung: „Objektivität durch Subjektivierung“. Riehl-Heyse war überzeugt, dass es objektives Schreiben nicht geben kann, stellte sich als Reporter in seine Geschichten und weckte im Leser das Gefühl, er stünde mit ihm Schulter an Schulter. Vorsätzliche Subjektivität sei ehrlicher, sie gaukle keinem vor, es gäbe nur eine Sicht der Dinge.
Das finde ich auch. Und wir können getrost alte Klischees einmotten: Subjektivität bevormunde und beeinflusse den Leser. Keiner will die Rolle des „Erziehers der Öffentlichkeit“ (Journalisten in der NS-Zeit) erwecken oder den „kollektiven Propagandisten“ (DDR). Es gibt auch keinen Grund, an der „verklärten Welt“ zu hängen, die sich seit meinen Anfangsjahren als Journalistin kaum verändert hat: „Schreiben Sie einen schönen Bericht“, verabschiedete mich der Bürgermeister nach jeder Gemeinderatssitzung. Schön war, was ihm gefiel, und wenn das der Fall war, kritisierte der Oppositionschef: „Ich glaube, ich war in einer anderen Sitzung.“ Ein Kommentar war „objektiv“, wenn er sich mit der Position des Politikers deckte, „guter“ Journalismus wurde mit Objektivität gleichgesetzt, Objektivität mit dem, was man subjektiv gut fand. Aber auch die Zeit des New Journalism ist vorbei, des bis ins Rauschhafte literarisierenden Stils eines Hunter S. Thompson.
Betrachten wir’s nüchtern: Der Medienwandel hilft uns, die sinnlose Jagd auf das Einhorn „Objektivität“ zu beenden. Es war immer ein Fabelwesen, immer unwirklich. Ich plädiere für echte Marken-Journalisten, die personalisiert, professionell recherchiert, gut beobachtet, positioniert, transparent, auch bezogen auf eigene Interessenfärbungen durch Partei- oder Verbandsmitgliedschaften ihre Sicht der Welt anbieten. Das gibt es wirklich.
Erstveröffentlichung: Kölner Stadt-Anzeiger vom 7. September 2011
Schlagwörter:Blogosphäre, Marke, Markenjournalismus, Medienwandel, New Journalism, Objektivität, Orientierung, Personalisierung, Subjektivität
Mehr zum Thema unter: http://www.evangelisch.de/themen/medien/die-st%C3%A4rke-des-journalismus-ist-dass-er-einordnet47053
Wenn ich in einem Artikel “Verortung” lese, hat er gleich – zack! – 27 Minuspunkte. Positiv: das momentan modische Lieblings-Akjektiv “spannend” fehlt. Deshalb 28 Pluspunkte!
Nur ist der Grad sehr schmal, dass nur noch Meinung statt Inhalt gezeigt wird. Investigativer Journalismus wird abgelöst durch die Bestätigung der vorgefertigten Meinung und der medialen Verurteilung der persönlich identifizierten Schuldigen.
Leider ist es so, dass die breite Masse die Verbreitung einer Meinung z. B. bei den öffentlich rechtlichen Radio- und Fernsehsendern nach wie vor als Meldung von Tatsachen wahrnimmt.
Und hier ist Objektivität kein Einhorn, es sollte nur mehr sein als die Sau, die durchs Dorf getrieben wird.
Und wenn Frontal21 im ZDF stolz berichtet, dass ihr Beitrag in Japan für Bürgerinitiativen sorgt, dann macht es mir Angst, wenn man die Qualität von Frontal21 kennt.