Erstveröfffentlichung: Die Furche Nr. 26/2010
100 000 – die Zahl hat viel von ihrer Faszination verloren. Doch reden wir diesmal nicht von Geld, auch ausnahmsweise einmal nicht davon, wie sich Journalismus künftig finanzieren soll – es stehen ja die Ferien vor der Tür.
Beschäftigen wir uns stattdessen mit der inflationären Vermehrung unseres Mitteilungsdrangs. 100 000 Kommentare täglich hat Amerikas Online-Zeitung Huffington Post auf ihrer Website zu moderieren – das addiert sich innerhalb eines Monats zu drei Millionen auf. Dem Blog TechCrunch zufolge sind 30 Mitarbeiter in der Redaktion damit beschäftigt, diesen Datenstrom zu bewältigen. Das tun sie in erster Linie, indem sie JuLiA beaufsichtigen. Sie wiederum haben wir uns nicht als blonde Redaktionssekretärin vorzustellen, sondern als lernfähige Suchmaschine, welche den Datenfluss auf Spam, auf „hate speech“ und andere unangemessene Äußerungen absucht. Künftig soll JuLiA auch darauf abgerichtet werden, besonders originelle und lesenswerte Beiträge zu identifizieren, um diese dann prominent auf der Website platzieren zu können.
„Here comes everybody“, hat Internet-Guru Clay Shirky in seinem Buch zur Web 2.0-Revolution programmatisch verkündet, und er kann überzeugend zeigen, wie sich die Gesellschaft dank des Internets durch Selbstorganisation verändert. Hier kommt jedermann, das heißt aber auch: Alle quatschen, der Lärmpegel steigt – und kaum jemand scheint mehr zuzuhören. Die vielgepriesene Interaktivität wird zur Farce, immer öfter kommunizieren wir mit Maschinen. Der „Dialog“ verkommt so zur Simulation, zum Fake. Womöglich bleibt „everybody“ auch in der schönen, neuen Internetwelt das, was er immer war: Eher ein Nobody als ein Alphatier. Es wird Zeit, dass wir uns nicht nur gegen die Geldvermehrung wehren, sondern auch gegen die Überflutung mit und die Entwertung von Information.
Autor: Stephan Russ-Mohl
Schlagwörter:Huffington Post, Informationsflut, Interaktivität, Suchmaschine