Schimpfen, poltern und informieren

4. April 2003 • Digitales, Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung

Netz-Tagebücher als Ergänzung zu den etablierten Medien
Was der Golfkrieg von 1991 für CNN bedeutete, soll nach Meinung von Fachleuten der jetzige Krieg im Irak fürs Internet bewirken. Zumindest die als Weblogs bezeichneten Online-Journale scheinen sich als alternative Informationsquellen zu etablieren. Insbesondere die Kategorie der Warblogs boomt.

Was vor kurzem nur wenigen Eingeweihten bekannt war, scheint sich zum Massenphänomen zu entwickeln. Die Zahl der Weblogs – chronologisch geordnete Aufzeichnungen mit meist kommentierten Verweisen auf andere Websites – dürfte mittlerweile in die Hunderttausende gehen. Immer einfacher zu bedienende, oft frei verfügbare Mini-Redaktionssysteme haben die einstige Verheissung des Internets, dass jeder sein eigener Verleger sein könne, wahr werden lassen.

Auch die Wirtschaft interessiert sich

Nun scheint sich auch die Wirtschaft für das einst als trivial, langweilig und belanglos belächelte Blogging zu interessieren. Terra Lycos bietet seit einigen Wochen ein kostenpflichtiges Weblog-Tool an, AOL will gemäss Medienberichten demnächst nachziehen, und auch Microsoft soll laut Gerüchten an einer Blogging-Lösung arbeiten. Im deutschsprachigen Raum versuchen die Firmen Freenet, twoday.net und 20six.de in diesem Geschäft Fuss zu fassen.

Erste Bestrebungen, Weblogs als Marketinginstrument einzusetzen, sind ebenfalls im Gang. Der amerikanische Getränkehersteller Dr Pepper/Seven Up unterhält etwa für die Lancierung eines neuen Softdrinks einen eigenen Weblog und entschädigt eine Handvoll Teenager mit Naturalien dafür, dass sie das Getränk in ihren Online- Tagebüchern erwähnen. Und Hollywood verwendet die neue Kommunikationsform erstmals für die Promotion eines Kinofilms. Endgültig ernst genommen wird das Blogging-Phänomen seit der vor einigen Wochen erfolgten Übernahme von Pyra Labs, dem grössten Anbieter von Blogging- Software, durch den Internet-Giganten Google.

Online-Tagebücher

Auch renommierte Medienunternehmen bedienen sich nicht zuletzt für ihre Kriegsberichterstattung inzwischen des Online-Tagebuch-Formats. So führen im Auftrag des «Guardian» ein Journalist und ein Menschenrechtsaktivist «Iraq Diaries», und «eingebettete» BBC-Reporter berichten unter dem Titel «Reporters’ Log» britisch- nüchtern von ihren Eindrücken und Erlebnissen im Kriegsgebiet. Wesentlich persönlicher und emotionaler sind da die Aufzeichnungen «Aboard the USS Abraham Lincoln» einer Journalistin des «Seattle Post-Intelligencer».

Ebenfalls direkt aus dem Krisengebiet, jedoch in privater Mission, haben der CNN-Korrespondent Kevin Sites und der «Time»- Mitarbeiter Joshua Kucera recht professionell gemachte Netztagebücher geführt. Beide sind kurz nach dem Ausbruch des Kriegs aber von ihren Arbeitgebern zur Einstellung der Nebentätigkeit angehalten worden. Gross war darauf die Empörung in der Blogger-Szene. Der BBC-Journalist Stuart Hughes publiziert hingegen auf stuarthughes.blogspot.com weiterhin seine privaten, durchaus interessanten Aufzeichnungen und Bilder aus dem Nordirak. Viel Aufmerksamkeit erhält ferner der freie Journalist Christopher Allbritton, der seine Reise in den Irak durch Spendenaufrufe auf seinem Weblog finanzieren will.

«Warblogs» – für und gegen den Krieg

Gross ist derzeit das Interesse an sogenannten Warblogs, die ursprünglich als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September entstanden sind und eine zunehmende Politisierung der Blogging- Welt eingeleitet haben. Insbesondere deutschsprachige Medien haben in jüngster Zeit den Eindruck erweckt, dass vor allem die Gegner des jetzigen Kriegs Weblogs für die Verbreitung ihrer Anliegen einsetzen würden. Zwar publizieren Friedensaktivisten etwa über «iraqjournal.org», «iraqpeaceteam.org» oder «electroniciraq.net» Augenzeugenberichte zur Situation im Kriegsgebiet, und «antiwar.com» verweist in klassischer Weblog-Manier auf eine Vielzahl von kritischen Berichten zu den Kriegsereignissen.

In den USA scheinen die Pro-War-Blogger indes klar in der Mehrheit zu sein. Eine Einschätzung, die zumindest von den Meinungsführern der «Bewegung», dem konservativen Publizisten Andrew Sullivan (andrewsullivan.com) und dem nicht minder konservativen bloggenden Verfassungsrechtler Glenn Reynolds (instapundit.com), auf Anfrage bestätigt wird. Wie alle Blogger nutzen Sullivan und Reynolds die «Narrenfreiheit», ihre Beobachtungen und Meinungen ungefiltert und ohne redaktionelle Einschränkungen publizieren zu können. Gekonnt schimpfen und polemisieren sie gegen die etablierten Medien, denen sie Linkslastigkeit und Unausgewogenheit vorwerfen: «Wir sind ein Gegengewicht zu den verzerrenden Darstellungen der etablierten Medien», gibt Sullivan auf die Frage nach den Beweggründen für seine Blogging-Tätigkeit zur Antwort. Unabhängig davon, ob man die Meinung der beiden Star-Blogger teilt, bieten ihre Web-Tagebücher durchaus interessanten Lesestoff.

Sullivan und Reynolds werden inzwischen auch von echten Journalisten durchaus ernst genommen. So lieferte sich Ersterer auf seinem Weblog erst kürzlich ein engagiertes Wortgefecht mit dem «New York Times»-Kolumnisten Thomas L. Friedman. Mit Stolz verweisen Reynolds und Sullivan gegenüber der «NZZ» auf die Nutzung ihrer jeweiligen Weblogs: Sowohl «instapundit.com» als auch «andrewsullivan.com» konnten für den Monat März weit über zwei Millionen Seitenaufrufe ausweisen. Um einiges deftiger als bei Reynolds und Sullivan geht es in den Niederungen der Warblogger-Szene zu, die unter Titeln wie «Armed Prophet@War», «VodkaPundit», «Cato The Youngest» (Untertitel: «Riyadh delenda est!») oder «Merde in France» daherkommen.

Auch Armeeangehörige sind mittlerweile als Blogger aktiv geworden und veröffentlichen auf Weblogs wie «Sgt. Stryker’s Daily Briefing» oder «L.T. Smash – Live from the Sandbox» ihre angeblich direkt im Feld entstehenden Tagebucheinträge. Ob echt oder nicht, bleibe dahingestellt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch das Pentagon Weblogs für seine Zwecke einzusetzen versucht.

Als äusserst populär erweisen sich die Anstrengungen von «The Agonist» sowie des eben erst lancierten, von rund zwanzig Bloggern betriebenen Gemeinschaftswerks «Command Post», wo rund um die Uhr Inhalte von Weblogs und traditionellen Medien aus aller Welt verfolgt und häufig unkommentiert verlinkt werden. Insbesondere in den USA stossen diese Dienste auf grosse Nachfrage, bieten sie den Usern doch Alternativen zu den meist Nabelschau betreibenden amerikanischen Mainstream-Medien. Nach Auskunft von Michele Catalano, Mitbegründerin von «Command Post», soll es der Gemeinschaftsblog nach nur einer Woche bereits auf beachtliche 400 000 Seitenaufrufe pro Tag gebracht haben.

Verstummte Stimme aus Bagdad

Kein Artikel über Weblogs wäre derzeit vollständig, ohne Salam Pax, den «Blogger von Bagdad», zu erwähnen, der als angeblich einfacher Einwohner der irakischen Hauptstadt unter Anteilnahme der Öffentlichkeit bis vor kurzem seine Beobachtungen ins Netz gestellt hat. Am 24. März ist er verstummt.

Ob sich der Blogging-Boom über das Ende des aktuellen Konflikts hinaus halten kann, wird sich weisen. Zumindest in Krisenzeiten mit erhöhtem Bedürfnis nach Orientierung scheint sich das Weblog-Format mit seiner Mischung aus Stammtischgepolter, Expertenwissen und unabhängiger Informationsvermittlung als Ergänzung zu den traditionellen Kanälen zu bewähren.

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