Neue Zürcher Zeitung, 3. Oktober 2003
Arthur O. Sulzberger über die Zeitung im Zeitalter des Web
Kein Wort von der Krise der Tageszeitung, und auch der Fälschungsskandal, der in den vergangenen Monaten die «New York Times» bis in ihre Grundfesten erschüttert hat, blieb im Vortrag unerwähnt. Arthur O. Sulzberger, der Verleger der angesehensten amerikanischen Zeitung, nutzte seinen Auftritt beim Jahreskongress der deutschen Zeitungsverleger in Berlin in dieser Woche stattdessen, um Visionen vorzustellen und Optimismus zu verbreiten.
In einer Welt rapiden technologischen Wandels und schrumpfender Entfernungen sieht er grosse Zukunftschancen für die Zeitungsindustrie: Gerade das anspruchsvolle Publikum, von ihm als «knowledge audience» charakterisiert, werde weiterhin nach glaubwürdigen Informationsquellen Ausschau halten, und im Internetzeitalter, wo «alles, was man wissen möchte, aber auch manches, was man ganz und gar nicht wissen will», im World Wide Web abrufbar sei, bedürfe es verlässlicher Lotsen.
Sein eigenes Verlagshaus habe sich den Herausforderungen gestellt, indem es Schritt für Schritt zunächst national und dann global expandiert habe – und zugleich die eigenen Redaktionen als Plattformen betrachte, die in möglichst allen Medien, also auch im Radio, im Fernsehen, auf dem Buchmarkt und im Internet, präsent sein sollten. War die «New York Times» noch in den achtziger Jahren ein Ostküstenblatt, das im Wesentlichen im Grossraum New York gelesen wurde, so sei die Zeitung inzwischen in den USA national verbreitet. Mit der vollständigen Übernahme der «International Harald Tribune» verfüge man jetzt über Standbein in Europa und werde nach Partnern Ausschau halten, um die Präsenz zu verstärken. Die Website wiederum sorge für globale Präsenz und sei auch in puncto Aufrufe weltweit die Nr. 1 unter den Angeboten der Zeitungshäuser.
«Wir müssen unseren Kunden folgen – aber möglichst auch schon vor ihnen da sein, wenn sie sich irgendwo hinbewegen», sagte er im Blick auf den Leserschwund bei den Tageszeitungen und die wachsende Nutzung von Internetangeboten vor allem durch junge Leute. Geld sei im Netz allerdings nur über Werbung zu verdienen. Weil sich alle Nutzer registrieren müssten, sammle sein Verlagshaus Daten, die es der Werbewirtschaft erlaubten, über das Webangebot der «New York Times» die gewünschten Zielgruppen relativ treffsicher zu erreichen. Als neuer Vertriebsweg für die gedruckte Tageszeitung habe sich auch eine Partnerschaft mit Starbucks bewährt, in deren Coffee-Shops die «New York Times» erhältlich sei.
Die letzte Frage im anschliessenden Podiumsgespräch galt schliesslich doch noch dem Fälschungsskandal, mit dem der inzwischen entlassene «New York Times»-Reporter Jayson Blair ein mittleres Erdbeben in dem traditionsreichen und qualitätsbewussten Zeitungshaus ausgelöst hatte und das mit dem Rücktritt zweier Chefredaktoren endete. Es sei eine «prägende Erfahrung» gewesen, selbst zum Gegenstand skandalisierender Berichterstattung zu werden, sagte Sulzberger und zeigte sich «sehr erstaunt», was die Medien alles berichtet hätten. Er sei sich mit seinem neuen Chefredaktor Bill Keller einig darin, dass kein Nachwuchsjournalist das College verlassen sollte, ohne wenigstens einmal selbst von den Medien an den Pranger gestellt zu werden.
Schlagwörter:Arthur O. Sulzberger, Online-Journalismus, Zeitungskrise, Zukunft