„Islamophobie ist kein Thema in Russland.“ Dieser Ansicht sind viele russische Journalisten und Experten – anders als in Europa oder den USA. Ist Russland tatsächlich so tolerant oder ignoriert es ein ernst zu nehmendes Problem?
„Der Islam ist eine der traditionellen russischen Religionen“ sagte Russlands Staatsoberhaupt Vladimir Putin im September 2015, als er zusammen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan eine neue Moschee in Moskau eröffnete. Bei dem pompösen Fest präsentierte der Kreml Russland als ethnisch buntes und multikulturelles Land. Dabei ist Fakt: Die Mehrheit der russischen Bevölkerung gehört der orthodoxen Kirche an. Muslime, die meisten von ihnen sind russischstämmig, stellen mit einem Anteil von zehn bis zwölf Prozent eine starke Minderheit dar. Obwohl der Islam schon immer zu Russland gehört hat, gibt es in der Bevölkerung zunehmend Spannungen, über die russische Medien jedoch kaum berichten.
Mehrere Studien stützen die These, dass die Abneigung gegen den Islam und seine Anhänger auf internationaler Ebene in den vergangenen Jahren zugenommen hat und immer stärker zu einem weltweiten Thema geworden ist. Auch in Russland hat es in den letzten Jahren verstärkt islamfeindliche Berichterstattung gegeben, vor allem in Zusammenhang mit Migrationsthemen. Die Studie „From ‚Compatriots‘ to ‚Aliens‘: The Changing Coverage of Migration on Russian Television“, die russische TV-Nachrichten aus den Jahren 2011 bis 2014 untersucht, zeigt sehr deutlich, dass es auch bei den beiden wichtigsten nationalen Nachrichtensendungen in Russland 2012 und 2013 eine regelrechte Anti-Migrations-Kampagne gegeben hat.
Während Russland zuvor meist als gutes Beispiel für das friedliche Zusammenleben von Muslimen und orthodoxen Christen präsentiert wurde, zeichnete die Berichterstattung ab 2012 ein deutlich negativeres Bild des Islams. „Der (muslimische) Migrant wurde jetzt systematisch als Gegensatz und Bedrohung für den ‚eingeborenen Europäer‘ dargestellt, der dem Christentum angehört“, schreiben die Autorinnen der Studie Vera Tolz und Sue-Ann Harding. Diese negative Berichterstattung fand im September 2013 ein relativ plötzliches Ende. „Ich denke nicht, dass unsere Medien, das Fernsehen und auch die übrigen, ein negatives Bild vom Islam beschwören“, sagt Diana Kachalova, Chefredakteurin der unabhängigen Zeitung Novaja Gazeta in St. Petersburg. In der russischen Bevölkerung seien jedoch große Angst und Misstrauen gegenüber Muslimen zu spüren. „Wir haben hier Islamophobie und ich denke auch, dass sie stärker ist als in Europa“, so Kachalovas Einschätzung.
Die Muslime in St. Petersburg selbst machen unterschiedliche Erfahrungen. Untersuchungen des SOVA Centers, eine unter anderem von der EU finanzierte NGO mit Sitz in Moskau, haben ergeben, dass 40 Prozent der Russen eine negative Einstellung gegenüber dem Islam haben. Gamzatov Zainulla, Mullah der Moschee in Sankt Petersburg, erlebt besonders im Internet Ablehnung, etwa in Form von islamfeindlichen Äußerungen in Kommentarspalten. „Vor allem über die sozialen Medien werden völlig verdrehte Informationen verbreitet, oberflächlich und unvollständig“, so der muslimische Gelehrte. Spricht man mit Muslimen in der Moschee, erfährt man, dass diese Furcht durchaus im Alltag immer wieder zutage tritt, etwa, wenn Menschen in der U-Bahn den Platz wechseln, wenn sie nur ein Buch sehen, das sich mit dem Islam befasst. Doch sie nimmt auch dramatischere Formen an, etwa wenn Molotow-Cocktails in Moscheen landen, geschehen in St. Petersburg in 2012 in Form eines mit explosiven Stoffen gefüllten Schweinekopfs oder im Oktober 2013 in Wolgograd. Trotz alledem ist Zainulla eher positiv eingestellt. „Ich denke nicht, dass in der russischen Gesellschaft Islamophobie zu finden ist“, so die Einschätzung des Sankt Petersburger Mullahs.
Mikhail Tjurkin, russischer Journalist und Gewinner des Peter-Böhnisch-Preises, sieht das anders: „Angst entsteht durch einen Mangel an Wissen. Was Russland betrifft, so finde ich, dass Islam und Islamisierung in den Medien zu wenig beleuchtet werden.“ Medien hätten einen Bildungsauftrag und daher in diesem Fall die Aufgabe, Wissen über die Religion Islam bereitzustellen. Tjurkins Eindruck ist, dass zum einen über den alltäglichen, zivilen Islam zu wenig berichtet wird. Zum anderen gebe es nicht einmal ausreichende Berichterstattung, wenn es um eindeutig islamfeindlich motivierte Überfälle geht oder Moscheen zum Schauplatz von Vandalismus werden, was aus seiner Sicht besonders bedenklich ist. Als Grund dafür vermutet Tjurkin Sicherheitsaspekte, weil durch intensivere Berichterstattung Spannungen zwischen den verschiedenen Religionen noch verstärkt werden könnten. „Der Frieden zwischen den Konfessionen ist extrem wichtig für ein solch großes Land wie Russland“, so Tjurkin. „Diese Bombe wollen wir lieber nicht zur Explosion bringen.“
Eine Ausnahme bilden einzig Regionen, in denen der Islam die vorherrschende Religion ist. In diesen muslimisch geprägten Teilen Russlands gibt es regionale und lokale Medien, die Tjurkin „islamische Presse“ nennt, die meist sehr tolerant eingestellt seien. Was nicht verwunderlich ist, da in diesen Gebieten auch die Zahl der Muslime unter den Journalisten höher sein dürfte als in den Städten. Sogar Nikolai Ivanov, Nachrichtensprecher bei dem staatlichen Fernsehsender Channel Russia 1, bestätigt vor allem ein lokales Interesse am Islam in den Medien, „In den Lokalsendern mancher Regionen können wir Themen, die mit dem Islam zusammenhängen, weder sensationalisieren noch marginalisiseren.“ Doch es scheint keinerlei Interesse daran zu bestehen, diese Themen aus dem lokalen ins nationale Fernsehen zu bringen.
Eher ethno-religiöse Hysterie als Islamophobie
Der wichtigste Grund für dieses zerstückelte Bild liegt in der Geschichte des Landes. „Wir haben die Tschetschenien-Kriege immer noch nicht vergessen“, sagt NowajaGazeta-Journalistin Kachalova. „Es geht uns nicht um Syrien, wir hatten Beslan.“ Und die Tschetschenen sind größtenteils Muslime. Ähnlich verhält es sich mit dem Nordkaukasus. Der sozioökonomische Druck, der auf diesen vernachlässigten Regionen lastet, macht sie beeinflussbar durch Islamisten und Fundamentalisten. Die Bewohner dieser Landesteile werden von der städtischen und westlich orientierten Gesellschaft Russlands häufig nicht als „echte Russen“ angesehen. „Die Menschen kümmern sich nicht wirklich um die Religion der Muslime in Russland, sondern mehr um ihre Herkunft“, sagt Kachalova. „Diese ‚Schwarzen’ aus dem Süden, sie sind es, vor denen sie Angst haben.“
Dieser gesellschaftliche Ausschluss der schnell wachsenden muslimischen Bevölkerung ist für Seyed Javad Miri, ein russisch-iranischer Soziologe, das Hauptproblem in Russland. Studien des amerikanischen PEW Forum für Religion und öffentliches Leben prognostizieren, dass Ende des Jahres 2030 in Russland rund 18.556.000 Muslime leben werden. „Sieht man diese Zahlen und den riesigen Spalt zwischen vielen muslimischen Gemeinden und dem kosmopolitischen Russland, wird klar, dass sich Russland die Frage stellen muss, wie das Zusammenleben in Zukunft aussehen soll“, sagt Miri. Schon jetzt haben Schätzungen zufolge etwa 2000 bis 3000 junge Muslime Russland verlassen und sich dem IS angeschlossen, rund tausend allein aus Dagestan im Kaukasus. Je stärker eine ethnische Minderheit aus einer Gesellschaft ausgeschlossen wird, desto größer ist das Risiko einer Radikalisierung. Die mediale Sichtbarkeit des Islams aber, nicht nur als Religion sondern als Kultur, könnte womöglich ein besseres Verständnis der Religionen und gerade auch der Ethnien fördern. Es wäre hilfreich, wenn die russischen Medien die Gefahr dieser Schlucht in der Bevölkerung auch also solche erkennen – und darüber ohne Angst berichten.
Original-Version auf Englisch: The fear underneath the surface
Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Seminars in St. Petersburg mit Journalistik-Studierenden der TU Dortmund und der Staatlichen Universität St. Petersburg unter der Leitung von Anna Carina Zappe und Anna Smolyarova.
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Bildquelle: A.Savin / Wikimedia Commons
Schlagwörter:Diana Kachalova, Islam, Islamophobie, Mikhail Tjurkin, Muslime, Russland