Plädoyer für einen neuen Foto-Journalismus

6. November 2020 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Felix Koltermann skizziert in einem Essay, wie er sich den Foto-Journalismus der Zukunft vorstellt: inhaltlich statt ästhetisch, (g)lokal statt global, kollektiv statt individuell und inklusiv statt ausschließend. 

Das mediale und gesellschaftliche Umfeld, in dem sich die journalistische Kommunikation im Allgemeinen und der Fotojournalismus im Besonderen heute bewegen, ist extrem fragmentiert. Dazu hat vor allem die Digitalisierung der Massenkommunikation beigetragen, die zu einer Auflösung des klassischen Sender-Empfänger-Modells führte. In der digitalen Medienöffentlichkeit von heute kann – zumindest theoretisch – jeder mit jedem kommunizieren. Die Massenmedien wurden damit eines zentralen Privilegs und bis zu einem gewissen Grad ihrer Existenzgrundlage beraubt. Die Folge für Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine war ein massiver Auflagen- und Umsatzeinbruch. Im Berufsfeld Fotojournalismus zementierte dies ein schon länger existierendes Beschäftigungsmodell: die Arbeit als Freie*r im Auftrag für verschiedene Redaktionen.

Fotojournalist*innen bieten heute – abgesehen von wenigen Ausnahmen – ihre Leistungen als Freiberufler*innen oder Solo-Selbstständige auf einem nach kapitalistischen Prinzipien von Angebot und Nachfrage organisierten Markt an. Der Vorteil dieser Art der Arbeitsorganisation ist ein großes Maß an Freiheit bezüglich der Auswahl der Kund*innen und große Flexibilität hinsichtlich Themen und Arbeitsgestaltung. Der Nachteil ist die Privatisierung jeglichen unternehmerischen Risikos. Im Alltag bedeutet dies, Produktionskosten selbst zu tragen, noch bevor das Produkt etwa in Form einer Fotoreportage einen Käufer gefunden hat. Teil des Marktgeschehens ist auch das Versprechen, sehr viel Geld verdienen und großen Ruhm ernten zu können. Wie so oft ist dies jedoch nur wenigen vergönnt.

Die neue (alte) Realität im Jahr 2020 ist also: der Fotojournalismus ist frei! Ob mensch dies wie die Kolleg*innen des Textjournalismusverbandes „Freischreiber“ mit dem Zusatz versieht „wie schön es ist, frei zu sein“, oder mensch dies einfach nur als gegeben hinnimmt, Fakt ist, dass dies so gut wie alle Aspekte der beruflichen Praxis des Fotojournalismus berührt und beeinflusst. Angesichts einer gesellschaftlichen Realität, die mit Phänomen wie dem Klimawandel vor extrem großen Herausforderungen steht und gleichzeitig von einer Krise des Faktischen geschüttelt wird, in der ein von journalistischer Kommunikation vermitteltes demokratisches Miteinander auseinanderzubrechen droht, ist zu fragen, wie der Fotojournalismus darauf reagieren kann. Eine Antwort könnte lauten: in der Entwicklung eines neuen Foto-Journalismus.

Vom Fotojournalismus zum Foto-Journalismus

Seit je her ist der Fotojournalismus mit der Frage verknüpft, ob er mehr Fotografie oder mehr Journalismus ist. Dazu gehört auch die – von vielen als alter Hut bezeichnete – Debatte, ob Fotografie denn nun Kunst oder Journalismus sei. Man kann diese Frage als eine spitzfindige Expert*innendiskussion abtun oder aber als Gradmesser dafür nehmen, wohin der Fotojournalismus sich entwickelt. Zu Bestimmung des Wesens oder einer Selbstbestimmung eines neuen Foto-Journalismus ist die Frage in jedem Fall von größter Relevanz. Denn auch wenn prinzipiell Überschneidungen und Kontextwandel möglich sind, so sind doch die Produktions-, Präsentations- und Rezeptionsbedingungen bzw. -mechanismen im Journalismus andere als in der Kunst. Die Funktion des Journalismus ist, Nachrichten zu selektieren und aufzubereiten und der öffentlichen Kommunikation zur Verfügung zu stellen. Den Medienkonsument*innen wird über diese Informationsvermittlung eine demokratische Teilhabe am Meinungsbildungsprozess ermöglicht. In welchen Formaten die Nachrichten verfasst und kommuniziert werden, ob als Text-, Audio-, Video- oder Fotobeitrag, ist dabei erst einmal zweitrangig. In der Kunst geht es des Kontrastes halber vereinfachend gesagt um den Code der – wie auch immer definierten und umgesetzten – Ästhetik und individuelle wie kollektive kreative Prozesse. Je nachdem für welchen Bereich – die Kunst oder den Journalismus – Fotograf*innen Arbeiten produzieren, werden unterschiedliche strukturierende Rahmenbedingungen wichtig.

Inhaltlich statt ästhetisch

In aktuellen Debatten im Berufsfeld wird der Aspekt der Ästhetik und einer neuen Bildsprache immer wichtiger. Dies ist nicht verwunderlich, werden doch Räume der Kunst wie Galerien und Museen immer öfter als Alternativen zum kriselnden Markt der Printpublikationen gepriesen. Auf dem Kunstmarkt ist eine unverwechselbare, individuelle visuelle Ästhetik als dokumentarische/r Bildautor*in zentrales Distinktionsmerkmal, was auch in der dokumentarischen Fotografie die Entwicklung einer Handschrift im Sinne einer unverwechselbaren Marke verstärkt. In diesem Zusammenhang tritt auch eine Debatte um neue Erzählformen am Rande des Faktischen auf, die mit faktualen und fiktionalen Elementen spielen. Aber wenn der Foto-Journalismus außerhalb von Festivals, Galerien und Museen weiterhin Bestand haben und sich als relevantes Massenmedium von Welterzählung behaupten will, muss er sich stärker auf seinen journalistischen Anteil konzentrieren. Dies bedeutet eine Konzentration auf faktenbasierten Inhalt und Recherche, also das zu Tage fördern von Geschichten, die Relevanz haben. Natürlich gehört dazu eine dem Thema angepasste individuelle Bildsprache der Fotojournalist*innen. Aber so wie im Textjournalismus die Sprache der Vermittlung von Informationen dient, so muss im Foto-Journalismus das Visuelle eine dienende Funktion haben und nicht zum Selbstzweck werden.

(G)lokal statt global

Die Globalisierung hat die Welt in vielen Bereichen zusammengerückt. Besonders deutlich wird dies daran, wie einfach und preisgünstig globale Mobilität geworden ist, was sich nicht zuletzt am weltweiten Boom von Low-Cost-Airlines zeigt, die selbst entlegene Regionen ansteuern. Aber vom Prinzip her ist das Reisen – als eine Form der Mobilität etwa neben der Migration – auch im 21. Jahrhundert immer noch ein Privileg, das, mit sozialem Status, Herkunft und dem richtigen Pass verbunden, grenzenlose Mobilität ermöglicht. So sind es immer noch eher Menschen aus dem globalen Norden, die in den globalen Süden reisen, als umgekehrt. Für Fotojournalist*innen aus dem globalen Norden bedeutet dies, sich ihrer Privilegien bewusst zu werden und ihre Arbeitspraxis dahingehend zu reflektieren, ob es auch andere, weniger „exotische“ Themen gibt. Ein (g)lokaler Foto-Journalismus ist lokal und regional verankert, aber setzt das Geschehen in Bezug zu globalen Themen. Verbunden mit der (G)lokalität ist auch die Frage nach dem Aspekt der Nachhaltigkeit im Fotojournalismus, etwa was den Verbrauch von Ressourcen angeht oder die Art des In-Beziehung-Setzen zu Akteur*innen, die im Fokus des (foto-)journalistischen Interesses stehen.

Kollektiv statt individuell

Das Versprechen eines freien Marktes ist die Möglichkeit auf Erfolg. Während andere Branchen Mindestlöhne oder eine Buchpreisbindung haben, gilt auf dem fotojournalistischen Bildermarkt das Prinzip „Survival of the Fittest“. Was die Gewinnmaximierung mit dem Produkt Journalismus und Information angeht, so nehmen sich die großen deutschen Verlagshäuser und die Internetkonzerne des Silikon-Valley nicht viel. Die einzige Option, dem etwas entgegen zu setzen, sind solidarische, kollektive Strukturen, egal auf welcher Ebene. Ob Künstlersozialkasse, Verbände wie FREELENS und die DJU in ver.di oder Kollektive wie DOCKS: Es gibt viele existierende Optionen und unzählige Möglichkeiten neue Strukturen zu schaffen, die der Ellbogenmentalität und dem vermeintlich notwendigen Überlebensinstinkt eines „Ich gegen Alle“ etwas entgegensetzen. Dies ist umso wichtiger, als dass die digitale Medienrealität von heute suggeriert, Informationen seien allseits verfügbar. Für viele Fragen reicht vermeintlich ein Eintrag in einer Facebookgruppe oder eine Anfrage an die Google-Suche. Aber solidarisches Handeln unter Kolleg*innen und Hilfe bei Krisen über kollektive Strukturen können die digitalen Helferlein nicht ersetzen.

Inklusiv statt ausschließend/privilegiert

Eine zentrale Erkenntnis der letzten Jahre ist, dass der Fotojournalismus sowohl was seine Akteur*innen als auch den Blick auf das Weltgeschehen angeht, gesellschaftliche Vielfalt zu wenig abbildet. Während bestimmte gesellschaftliche Gruppen in stereotyper Manier abgebildet werden, gilt auf Akteursseite, dass je mehr Erfolg, je mehr Einkommen und je besser die Position ist, umso männlicher und weißer es wird. Darauf weisen Initiativen wie der Female Photo Club, Reclaim Photo oder die Every Day Projects seit längerer Zeit hin. Ein inklusiver Foto-Journalismus muss also zum einen darauf achten, in den eigenen Reihen und auf allen Positionen stärker gesellschaftliche Vielfalt abzubilden und zu fördern. Zum anderen ist zu fragen, welche Foto-Journalist*innen warum welche Geschichten erzählen oder nicht-erzählen. Auch wenn aller Anfang schwer ist, so geht es auf der Ebene des/der Einzelnen im Prinzip um nichts anderes, als die eigene Situiertheit in der (Welt-)Gesellschaft zu reflektieren und dies bei der eigenen Arbeit immer mitzudenken.

Ausblick

Viele Debatten um den Status Quo und die Zukunft des Fotojournalismus werden aus einer nostalgischen, historisch-verklärenden Perspektive geführt. Dies ist nicht verwunderlich, kommen doch viele der öffentlichen Stimmen, die für den Fotojournalismus sprechen, aus einer Generation, die noch andere Arbeits-Realitäten kennengelernt hat. Aber auch wenn der Blick zurück wichtig ist und lehrreich sein kann, scheint es wichtiger denn je zu fragen, wie die Zukunft aussehen könnte. Dazu gehört auch eine gehörige Portion Utopie und Vorstellungskraft, um sich ein Berufsfeld zu imaginieren, in dem Dinge passieren, die bisher vielleicht weder gedacht noch ausprobiert sind oder einfach zu früh und zu leichtfertig verworfen wurden.

Zumindest aus einer ökonomischen Perspektive ist die Antwort klar: Geld ist genug auf der Welt, die Frage ist nur, wie es gerecht verteilt, nachhaltig eingesetzt und in die richtigen Bahnen gelenkt werden kann, ohne ausschließlich dem Shareholder-Value-Denken verpflichtet zu sein. Dann könnten Fotojournalist*innen sozial abgesichert als Freie tatsächlich stolz sein, frei zu sein oder als Festangestellte aus den Redaktionen heraus journalistisch handeln. Verhaftet in der humanistischen Tradition seiner Gründermütter und -väter ist der neue Foto-Journalismus (g)lokal orientiert, inklusiv, solidarisch und kollektiv handelnd und auf die Vermittlung von Inhalten konzentriert. Denn Foto-Journalismus ist Journalismus! Und mit solch einer Perspektive wäre er dazu in der Lage, auch abseits kleinerer Filterblasen als wichtiges Medium des zeitgenössischen Journalismus zu einem demokratischen Miteinander beizutragen.

 

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