Hybride Mediensysteme: Chancen und Grenzen eines populären Konzepts

2. Februar 2024 • Aktuelle Beiträge, Forschung aus 1. Hand • von

Mit einem Smartphone spontan ein ganzes “Fernsehstudio” aufbauen: mit der Digitalisierung verschwimmen auch die Grenzen zwischen professionellen Journalist:innen und anderen, die Inhalte produzieren. Archivbild: Marcus Kreutler

Das Konzept „Hybridität“ taucht häufig auf, um Mediensysteme zu beschreiben, die sich im Wandel befinden oder verschiedene Tendenzen zugleich zu erleben scheinen. Hallin, Mellado und Mancini (2023) haben analysiert, wofür genau der Begriff genutzt wird, wo er hilfreich ist und wo zu vage.

Die Mediensystemmodelle von Hallin und Mancini (2004) gehören zu den bekanntesten und einflussreichsten in der Mediensystemtheorie. Anhand verschiedener Variablen ordneten sie Mediensysteme Europas und Nordamerikas in verschiedene Kategorien ein und kreierten so eine Typologie, die bis heute in der Kommunikationswissenschaft zum Vergleich von Mediensystemen herangezogen wird.

Die Modelle waren allerdings nur auf Basis der untersuchten Fallstudien entwickelt und nicht als einzige oder allgemeingültige Kategorisierungen gedacht. Bei der Anwendung der Modelle auf andere Mediensysteme oder zu anderen Zeitpunkten haben viele Forschende daher gemerkt, dass die Modelle auf diese Fälle nicht oder nur teilweise passten. Stattdessen fanden sie Mischformen, die Elemente verschiedener Typen sowie gänzlich andere Aspekte vereinen. Da Hallin und Mancinis Modelle dennoch wichtige Referenzpunkte bleiben, kommt in diesen Fällen häufig das Wort Hybridität ins Spiel.

In einem wissenschaftlichen Papier, veröffentlicht 2023 im International Journal of Press/Politics, haben David Hallin, Paolo Mancini und Claudia Mellado sich nun mit den Chancen und Grenzen dieses Konzepts auseinandergesetzt. Sie diskutieren, wie der Begriff in Bezug auf Mediensystemforschung für gewöhnlich eingesetzt wird, wofür er nützt und wo er spezifischere Analysen verhindert.

Die Mediensytemmodelle nach Hallin und Mancini

Hallin und Mancini (2004) unterscheiden zwischen dem mediterranen oder polarisiert pluralistischen Modell, dem nord- und mitteleuropäischen oder demokratisch-korporatistischen Modell und dem nordatlantischen oder liberalen Modell. Die Klassifizierung basiert auf vier Variablen: der Struktur des Medienmarktes, dem politischen Parallelismus, dem Grad der journalistischen Professionalisierung und der Rolle des Staates einschließlich des Grades der staatlichen Intervention in die Medien (S. 296). Die drei Modelle sind Idealtypen, die den tatsächlichen Mediensystemen nur annäherungsweise entsprechen, den internationalen Vergleich aber vereinfachen sollen (S. 297). Auch andere Wissenschaftler, z.B. Siebert et al. (1963) und Blum (2005) haben Typologien von Mediensystemen entwickelt.

Mediensysteme im Wandel

Das Konzept der Hybridität bezieht sich laut Hallin, Mellado und Mancini „auf eine Kombination “ungleicher” Elemente, die durch Prozesse der Vermischung, Entlehnung und Aneignung entstehen“ (S. 220). Ursprünglich stammt es aus der Biologie. In Bezug auf Mediensysteme kommt es besonders häufig vor im Zusammenhang mit Wandlungsprozessen wie Globalisierung und Digitalisierung und deren Auswirkungen auf Mediensysteme. Sie beeinflussen Medienregulation, Institutionen und journalistische Arbeitsprozesse – und letztlich, was unter „Journalismus“ oder „Professionalität verstanden wird.

Einerseits, so die Autor*innen, sei das Konzept der Hybridität nützlich, um diese Veränderungen abzubilden und zu untersuchen, gerade im Vergleich zu früherer europäischer Medienforschung, die den Fokus häufig eher auf die Stabilisierung von Institutionen und Normen setzte. Andererseits wird seine analytische Kraft gedämpft durch die Überanwendung auf viele verschiedene Fälle. Dadurch verliert das Konzept an Genauigkeit – damit entsteht dasselbe Problem, das die Überanwendung des polarisiert-pluralistischen Mediensystemmodells auf viele sehr unterschiedliche Mediensysteme mit sich brachte, die sich nur in ihrer Abweichung vom liberalen oder demokratisch-korporatistischen Typ ähnelten.

Anstatt als einfache Erklärung für eine Vielzahl verschiedener Phänomene übernutzt zu werden, empfehlen die Autoren, Hybridität als „sensibilisierendes Konzept“ nach Herbert Blumer einzusetzen. Demnach kann es auf Prozesse des sozialen oder systemischen Wandels hinweisen und so als Referenz bei empirisch noch nicht weiter untersuchten Phänomenen helfen, muss aber im nächsten Schritt spezifiziert werden, um verschiedene Phänomene ausreichend differenziert zu behandeln. Für eine solche Bedeutungsklärung haben Hallin, Mellado und Mancini die gängigsten Nutzungszusammenhänge des Konzepts erfasst:

 

  1. Neue Medien und ihre Auswirkungen auf Mediensysteme

Diese Tendenz wurde bereits mit der Ausbreitung des Fernsehens beobachtet: Medienregulation und Märkte mussten auf diese neuen Formate und Anbieter reagieren. Auch Phänomene wie „Infotainment“ kamen auf, die die Grenzen der klassischen journalistischen Berichterstattung in Frage stellten. Die sozialen Medien bewirkten natürlich noch stärkeren Wandel, unter anderem auch die Möglichkeit für alle Nutzer:innen, selbst Inhalte zu produzieren und die Notwendigkeit einer Abgrenzung der Rollenbezeichnung „Journalist:in“.

 

  1. Geographische Informationsflüsse, Dekolonialismus und Journalismuskulturen

Globalisierung, Moderne und auch die Möglichkeiten durch technologische Innovation sorgen für eine Verbreitung von Informationen, Normen und Institutionen über kulturelle und geographische Grenzen hinweg. Nicht zuletzt wichtige Stimmen der postkolonialen Kulturwissenschaft wie Homi Bhabha untersuchten Hybridität als eine von Machtgefällen bestimmte Vermischung globaler und lokaler Informationen. In Bezug auf Mediensysteme fällt hierunter auch die Beeinflussung lokaler Medienlandschaften durch Kolonialismus oder später durch Medienentwicklungszusammenarbeit. Dadurch kann ein nebeneinander von liberal und eher traditionell oder sogar autoritär geprägten Elemente entstehen. Auch hier können Fragen über die Grenzen von Konzepten aufkommen, z.B. ob es universelle Normen für journalistische Professionalität geben kann, oder ob diese durch Machtunterschiede aufoktroyiert werden.

 

  1. Hybridität als ein generelles Kennzeichen journalistischer Arbeit

Dieser Ansatz beschreibt, das Journalist:innen es in ihrer täglichen Arbeit mit verschiedenen Einflüssen und Milieus zu tun haben. Dadurch können hybride Berufsbilder und auch Genres entstehen: so könne zum Beispiel ein:e Reporter:in, die für Klatschblätter über Prominente berichtet, einerseits den journalistischen Regeln und Funktionsweisen der Redaktion unterworfen sein, andererseits aber auch den stilistischen und behavioristischen Merkmalen der Unterhaltungsindustrie. Besonderes Licht wirft darauf die Forschung zu journalistischer Rollenperformanz von Mellado et al., die beschreibt, wie Journalist:innen durch Anforderungen, etwa auf dem Niveau der Gesetzgebung, der Redaktion, aber auch ihrer persönlichen Kontakte in Rollenkonflikte geraten können. Die „Lösung“ ist dann manchmal eine hybride Rollenperformanz, die versucht, unterschiedlichen Anforderungen gerecht zu werden.

 

Alles hybrid – oder braucht es neue Konzepte?

Das Risiko dieser vielfältigen Nutzung des Konzepts Hybridität ist nach den Autor:innen, dass alle komplexen, verschiedene Tendenzen vermischenden Phänomene im Mediensystembereich als „hybrid“ bezeichnet werden, ohne auf wichtige Unterschiede einzugehen. Damit käme man schnell auf den Gedanken, dass in einer globalisierten, digitalisierten Welt nur noch hybride Journalismuskulturen bestehen. Analytische Aufgabe der Kommunikationswissenschaft wäre jedoch, diese spezifischer zu benennen, miteinander zu vergleichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen. Sich auf der Offenheit des Konzepts Hybridität „auszuruhen“ könnte dazu führen, dass keine neuen und differenzierteren Konzepte entwickelt werden.

Schließlich bedeutet hybrid, dass verschiedene Elemente aus alten Modellen und Theorien nebeneinander oder vermischt existieren. Könnte es aber nicht auch sein, dass man etwas völlig Neues betrachtet? Als Beispiel ziehen die Autor:innen hier Forschung von Katrin Voltmer zu Transitionsländern heran, in denen es Wahlen, aber keine Demokratie nach westlichem Verständnis gibt: Sind sie damit einfach eine Mischung aus demokratisch und autoritär, quasi ein „missglückter“ Versuch, liberale Demokratien zu kopieren, oder würde es eher helfen, die alten analytischen Brillen abzustreifen und aus der Fallstudie selbst ganz neue Konzepte zu entwickeln? Möglicherweise könnte dies ein neues Verständnis erlauben, das man mit den existierenden Denkmustern gar nicht erreichen könnte.

Was steht schon fest?

Auch auf einen weiteren Widerspruch weist die Veröffentlichung hin: Das Konzept Hybridität beschreibt eine Vermengung verschiedener Elemente und es wird in der Regel davon ausgegangen, dass es kein Land oder Mediensystem, keine Journalismuskultur und auch kein Individuum gibt, das nicht verschiedenste Charakteristika in sich vereint. Es propagiert also die Abkehr von einem Dualismus, auf dem es aber selbst beruht: denn auf der anderen Seite liegt gerade das Interesse an Hybridität darin, dass es sich von einer Idee der Stabilität oder Homogenität abgrenzt. Wer die Hybridisierung eines Mediensystems durch das Aufkommen von Big Tech-Plattformen und anderen sozialen Medien untersucht, geht scheinbar davon aus, dass das Mediensystem vorher „homogener“ war. Aber ist dies wirklich der Fall, oder wurde es bereits hybridisiert, als Fernsehen und Radio ein reines Printmediensystem ablösten?

Um derartigen Widersprüchen zu begegnen, schlagen Hallin, Mellado und Mancini vor, von Zyklen der Hybridität zu sprechen. Mediensysteme waren demnach immer hybrid und im Wandel; technologischen Fortschritt, gegenseitige Beeinflussung verschiedener geografisch-kulturell markierter Räume und das Nebeneinander verschiedener Organisationstypen von Medienunternehmen und Genres gab es schon immer. Was einmal hybrid war, kann sich stabilisieren und dann mit anderen Elementen gemischt neu hybridisiert werden. Allerdings neige die Kommunikationswissenschaft zu einem „Präsentismus“, also dazu, immer nur die Gegenwart als neu und hybrid zu betrachten. Ein historischer Blick könnte helfen, nicht bei der Feststellung einer Hybridisierung stehen zu bleiben, sondern genauer zu beschreiben, worin die Veränderung besteht. Außerdem sei nicht zu bestreiten, dass einige Phänomene in bestimmten Systemen sich eher stabilisieren (in vielen westlichen Mediensystemen z.B. durch Institutionalisierung und Professionalisierung), während andere das Gegenteil erleben und daher auch eher von den stabilen Systemen beeinflusst werden.

Vielleicht, so die Autor:innen, entsteht die Beliebtheit des Hybriditätskonzepts aus dem Eindruck, dass der Journalismus aktuell eine Zeit besonderer Disruptionen und Krisen durchmacht. Hybridität ist ihrer Ansicht nach universell und weder neu noch ungewöhnlich – um daher genug analytische Schärfe zu bewahren, muss genau definiert werden, was analysiert wird. Eine solche Betrachtung würde sich auch für andere Konzepte lohnen, die in der Journalismusforschung populär sind, aber drohen, übernutzt zu werden, beispielsweise Media Capture.

 

Literaturhinweis:

Hallin, D. C., Mellado, C., & Mancini, P. (2021). The Concept of Hybridity in Journalism Studies. The International Journal of Press/Politics, 194016122110397. https://doi.org/10.1177/19401612211039704

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