Die FR im Jahr 2020

2. September 2005 • Qualität & Ethik • von

Frankfurter Rundschau, 2. September 2005

Stephan Ruß-Mohl träumt sich in die Zukunft des Zeitungsgewerbes. Er sieht Texte auf faltbaren Bildschirmen. Er wünscht sich die Wiederkehr der Mäzene. Er befürchtet den Durchmarsch der Konzerne.

"Langfristig sind wir alle tot" hat der Ökonom John Maynard Keynes einmal gesagt. Er hat damals wohl an gewöhnliche Sterbliche gedacht – und nicht an die Tageszeitung, deren Niedergang und Hinscheiden heute so manche Gurus und Futurologen vorhersagen. Vor allem hat Keynes damit aber all jene Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler attackiert, die glaubten, langfristige Prognosen stellen zu können. Noch heute gelten Forscher als unseriös, die sich an Vorhersagen über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren heranwagen. Meine Überlegungen, wie eine Qualitätszeitung im Jahre 2020 aussehen könnte, basieren also teils auf Trend-Extrapolation, andererseits aber auch auf einer Mischung aus Wunschdenken, Horrorvisionen und Kaffeesatz-Lesen.

Entwickeln wir zwei Szenarien. Das erste beschreibt, wie sich in meinen kühnsten Hoffnungen bis 2020 die Zeitungskultur entwickeln könnte.

Europa wird demzufolge nicht nur weiter zusammenwachsen. Auch die Qualitäts-Zeitungen werden europäischer werden. Sie werden den europäischen Nachbarn weit mehr Aufmerksamkeit widmen. Es wird einen regen Artikel-Austausch geben, wir werden dank guter Übersetzungen teilhaben an den kulturellen und gesellschaftlichen Diskursen in Polen, Lettland und Tschechien ebenso wie in Frankreich, Spanien und Schweden.

Die europäischen Gesellschaften werden sich aus ihrer Erstarrung gelöst haben, sie haben auf die Herausforderung der Globalisierung Antworten gefunden und zumindest einen Teil ihres Wohlstands gegen die "Billigkonkurrenz" aus Indien und China verteidigt.

Im Banne des Newsy

Es wird eine neue Linke entstanden sein, die, von Marx und vom Neoliberalismus inspiriert, ökonomisch denken gelernt hat, aber auch die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit wieder stellt – was sich dann allerdings nicht mehr im bloßen zähen Verteidigen sozialstaatlicher Besitzstände äußert. John Kenneth Galbraith wird zum Beispiel wieder entdeckt worden sein, der schon in den sechziger Jahren des vorangehenden Jahrhunderts wortgewaltig die sich öffnende Schere zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut beschrieben hat.

Die Tageszeitungen werden zu dieser Entwicklung ihr Scherflein beisteuern, indem sie aufklären und Hintergründe ausleuchten. Die Frankfurter Rundschau und weitere vier oder fünf überregionale Blätter florieren, die FR auch deshalb, weil sie, der gewerkschaftlichen Erstarrung ebenso überdrüssig wie des Populismus von Gysi, Lafontaine and Co., zum Vordenker der neuen Linken geworden ist.

Die Prognose Mathias Döpfners, des Springer-Vorstandsvorsitzenden, hat sich also nicht bewahrheitet, dass auf dem deutschen Markt mittelfristig nur Platz für zwei überregionale Tageszeitungen sein werde. Es gibt sie noch immer, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und Die Welt, die Überlebenskünstlerin taz und die FR – und auch die netzeitung.de hat alle Turbulenzen überstanden.

Möglich ist das allerdings nicht durch Hokuspokus geworden, sondern weil die Verlagshäuser Druck- und Vertriebskosten weitgehend einsparen konnten. Als irgendwann zwischen 2008 und 2012 der faltbare, elektronische Bildschirm, der in jede Jackentasche passt – nennen wir ihn das "Newsy" – plötzlich zu einem erschwinglichen Preis "da" war, ist er in kurzer Zeit genauso "hip" geworden wie Handys Ende der 90er Jahre. Gedruckte Zeitungen sahen endgültig so alt aus wie Postkutschen im Zeitalter des Automobils. Nicht bewahrheitet haben sich indes die Prognosen, die Jüngeren würden gar nicht mehr lesen. Sie zappen sich im Internet von einer Zeitung zur anderen, eben weil jedermann und jedefrau das Newsy mit sich herumträgt.

Wurde noch nach dem Platzen der New- Economy-Blase in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends so manche Online-Redaktion aufgelöst, haben sich die Gewichte in den Folgejahren mehr und mehr verschoben. Um 2010 herum haben immer mehr Journalisten und Verleger erkannt, wie überlegen die Online-Zeitung der herkömmlichen Drucktechnologie ist – ähnlich wie die Journalisten-Generation zuvor schließlich eingesehen hatte, dass der Computer ein Werkzeug ist, das die Arbeit erleichtert, Zeit spart und kreative Phantasie freisetzt, nachdem viele Redakteure und ihre Gewerkschaften in den 80er Jahren um das elektronische Teufelszeug zunächst einen weiten Bogen gemacht hatten.

Es entstanden immer mehr integrierte Newsrooms; die crème de la crème des Journalismus begann, für Websites zu arbeiten. Der Journalisten-Nachwuchs hat die Möglichkeiten des neuen Mediums immer mehr ausgereizt – Interaktivität, Links, die Chance, Video, Ton und Text zu kombinieren, so dass sich die traditionelle Trennung von Print, Radio und TV allmählich aufhob.

Für unsere Generation – die bis dahin vergreisten Alt-68er – wird es zwar hoffentlich auch im Jahr 2020 noch eine gedruckte Version der Tageszeitung geben. Sie ist lesefreundlich in einer 12-Punkt-Schrift gedruckt für die dann 70- bis 80-Jährigen der Methusalem-Gesellschaft, die noch mit Papierrascheln am Frühstückstisch groß geworden sind. Diese Zeitung erscheint allerdings in kleinem Format, nicht nur weil das handlicher ist. Es ist auch kompatibler mit dem Internet-Angebot.

Die Berichterstattung über Medien und auch über populäre Kultur hat sich dann deutlich ausgeweitet. Weil die Menschen täglich vier bis fünf Stunden Medien wie das Internet und das Fernsehen nutzen, aber nur alle paar Monate in die Oper oder ins Konzert gehen, setzen die Feuilletons entsprechende Akzente. Und dank der intensivierten Berichterstattung über Medien weiß das Publikum besser Bescheid: Die Ansprüche an den Journalismus sind gestiegen – die Zahlungsbereitschaft auch. Wir haben uns daran gewöhnt, dass eine Frankfurter Rundschau auch online deutlich mehr kostet als eine Tasse Cappuccino bei Starbucks.

Die Enkel von Bucerius

Andererseits haben sich so um 2010, als die Krise des Zeitungsjournalismus zunächst kein Ende nehmen wollte, auch wieder Mäzene eines anspruchsvollen Journalismus gefunden – so wie zuvor Gerd Bucerius jahrzehntelang mit Hilfe des stern seine Zeit und übrigens auch Axel Springer mit den üppigen Gewinnen der Bild-Zeitung seine Welt durchfütterte. Nachdem die SPD die schlingernde FR gerettet hatte, hat sie sich bald wieder von ihr getrennt und sie an solch einen Philanthropen verkauft – der klugen Einsicht ihres Kanzlers folgend, dass man zum Regieren zwar Bild und die Glotze braucht, aber eben nicht ein Intelligenzblatt. Das Zeitalter der Parteizeitungen war ja bereits lange vorher zu Ende gegangen. Und für Versuche wie die des italienischen Medienmoguls und Ministerpräsidenten Berlusconi, sich meinungsführende Blätter gefügig zu machen, empfanden selbst die machtbewussten Parteifunktionäre der deutschen Sozialdemokratie nichts als Verachtung.

Die öffentliche Hand hat sich in den ersten zwanzig Jahren des neuen Jahrtausends zurückgehalten.

Es gab zwar behutsame Investments in die journalistische Qualität dort, wo der Markt erkennbar versagte, zum Beispiel in Infrastrukturen des Journalismus, in Ausbildung und in die Medienforschung. Ansonsten herrschte jedoch die Überzeugung, dass in einer freien Gesellschaft der Staat sich möglichst aus den Medien und dem Journalismus heraushalten sollte.

So weit das erste Szenario – zu schön, um wahr zu werden. Das zweite ist denn auch dasjenige, das ich für wahrscheinlicher halte.

Statt der Redaktionen wachsen nur die Medienkonzerne auf europäischer Ebene zusammen, die Zeitungen und der Journalismus bleiben nationalstaatlich organisiert, ja schlimmer noch: Sie werden provinzieller.

Obendrein nährt der Populismus der Medien den politischen Populismus – und umgekehrt. Der Markt der Gratiszeitungen expandiert bis 2020 stark. Die Nische, in der anspruchsvoller Journalismus gedeiht, wird somit kleiner. Auch steigt die Quote der Analphabeten – angesichts der fortdauernden Schul- und Hochschulmisere, der Zuwanderung, aber auch, weil viele Eltern vor lauter Selbstverwirklichung in der Arbeits-, Freizeit- und Spaßgesellschaft keine Zeit mehr für Kinder und Familie haben.

Inland gegen Ausland

Ein großes Zeitungs- und Kiosk-Sterben hat nach 2010 eingesetzt, und auch Bücher werden seither kaum noch auf Papier gedruckt. Man kann sie sich ebenso wie alle Zeitungen aus dem Internet auf sein Newsy herunterladen. Selbst Leseratten verreisen so mit dem faltbaren Bildschirm als federleichtem Urlaubsgepäck.

Inhaltlich hat sich in den Qualitäts-Zeitungen womöglich noch nicht einmal allzu viel geändert – nur der Kreis ihrer Nutzer ist geschrumpft, was die allerdings aushalten, weil sie eben überwiegend online gelesen werden und damit teure Druck- und Vertriebskosten entfallen. Allerdings hat das Lokale und Regionale weiter die europäische und die internationale Berichterstattung verdrängt. Ein Auslandskorrespondent kostet nun mal sehr viel mehr als drei Lokalreporter. Und was gerade in Brüssel oder Tokio los ist, kann man ja mühelos jederzeit im Internet bei den Nachrichtenagenturen checken.

Hinter den Kulissen gibt es noch mehr zielgruppengerechte Fernsteuerung des Journalismus durch PR. Außerdem haben viele Unternehmen, aber auch zunehmend Non-Profit-Organisationen ihre Budgets umgeschichtet. Sie haben ihre Werbeaufwendungen reduziert und stattdessen ihre Öffentlichkeitsarbeit verstärkt und somit die Ressourcenbasis des Journalismus immer weiter ausgetrocknet.

Abos per Schneckenpost

Weil es den überregionalen Zeitungen weiter schlecht ging, ist irgendwann eine rot-rot-grüne Koalition auf die unselige Idee gekommen, wir bräuchten öffentlich-rechtliche Zeitungen. Zusätzlich zu den TV- und Radio-Mammut-Bürokratien von ARD und ZDF sind zwei öffentlich-rechtliche Zeitungsverlage entstanden, welche die Gebührenzahler ausplündern und sich, Parkinsons Gesetz folgend, immer weiter aufblähen.

Im privatwirtschaftlichen Sektor können sich überregionale Qualitätszeitungen nur noch unter dem Dach großer Medienkonzerne behaupten. Diese brauchen ein "Flaggschiff", um öffentlich wahrgenommen zu werden – und finanzieren dies aus den Gewinnen anderer Objekte quer. Wäre das nicht so, hätte es schon 2005 die Welt nicht mehr gegeben.

Irgendwann zwischen 2010 zu 2015 wurde auch der Frankfurter Zeitungsmarkt konsolidiert. Erst hat einer der Großkonzerne – sagen wir die WAZ-Gruppe oder Gruner+Jahr – der SPD die FR abgekauft. Dies aber nur, um vom neuen Heimatmarkt aus das eigentliche Objekt der Begierden attackieren zu können und es sich schließlich einzuverleiben: die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Somit erscheint 2020 die einzige namhafte konzernunabhängige Qualitäts-Zeitung im deutschsprachigen Raum in Zürich.

Ein Zustelldienst rentiert sich dann nur noch dort, wo viele alte Menschen auf engem Raum zusammen leben: in den Seniorenghettos auf Mallorca, Florida, Sardinien und an der türkischen Küste zum Beispiel. In den Metropolen, in Frankfurt und Berlin, in Hamburg und München gibt es indes für gedruckte Zeitungen nur noch wenig Abonnenten. Print-Medien werden somit wieder per Schnecken-Post zugestellt, vorausgesetzt , dass es sie noch gibt.

Das Fazit: Die Qualitäts-Zeitung hat Zukunft, sie ist auch 2020 unverzichtbar – aber egal, ob diese Zukunft eher vom ersten oder vom zweiten Szenario geprägt sein wird, es ist eine Zukunft im Internet und nicht auf gedrucktem Papier.

PS.: Im Jahr 2020 wird der Autor, wenn alles gut geht, 70 Jahre alt. Er wird also hoffentlich mit dabei sein dürfen, wenn die FR ihren 75. Geburtstag gebührend feiert. Seine heutigen Fehleinschätzungen mögen dann zur Erheiterung der Festversammlung und zur Steigerung der Partystimmung beitragen.

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