Indigener Journalismus: Das Recht, gehört zu werden

7. Oktober 2021 • Qualität & Ethik • von

EJO-Mitarbeiter Roman Winkelhahn ist vor Ort im US-Bundesstaat Arizona – er zeigt auf, wie indigene Gruppen durch Medien ihre Interessen vertreten und was der deutsche Journalismus davon lernen kann.

2016 protestierten die Bewohner der Standing Rock Reservation gegen die Verlegung einer Pipeline in ihrer Region. Foto: Jolanda Kirpensteijn / unsplash.com

Flagstaff ist eine von Pinienwäldern umringte Kleinstadt in den Bergen Nordarizonas. Knapp 77.000 Menschen leben hier. Im Osten der Region liegen die Hopi- und Navajo-Reservate, im Westen die der Mohave und der Hualapai.

Es gibt nur einen lokalen Nachrichtensender in der Stadt; das Studentenradio der Northern Arizona University (NAU). Das Fernsehen hat sich bereits vor zehn Jahren aus Flagstaff zurückgezogen – und kehrt maximal bei Schneestürmen für eine Live-Berichterstattung in die Stadt zurück. Die meisten Sender haben ihren Sitz inzwischen in Arizonas Hauptstadt Phoenix.

Außerhalb von Flagstaffs Stadtgebiet, in den Reservaten der indigenen Gruppen und Communities, spielt das Radio eine bedeutende Rolle im Informationsalltag. Die Journalistin Rachel Cox erklärt: „Es gibt in den meisten Reservaten kein Kabelfernsehen, also hat jeder, den ich kenne, ein Radio.“

Rachel Cox selbst gehört keiner indigenen Gruppe an. Als Dozentin leitet sie jedoch seit 1993 Workshops für indigene Medienschaffende, „damit die Menschen in den Communities ihre eigenen Geschichten erzählen können“. Als Nicht-Indigene sei es Cox‘ Ziel dabei, im Prozess der Medienproduktion nach möglichst kurzer Zeit „überflüssig“ zu werden. „Es ist nicht meine Geschichte. Ich gebe den Menschen nur das Werkzeug an die Hand.“ Die Journalistin erinnert unter anderem an die Standing-Rock-Proteste im Jahr 2016, als die Bewohner der Standing Rock Reservation gegen die Verlegung einer Pipeline in ihrer Region auf die Straße gingen. Hier spielten laut Rachel Cox vor allem die sozialen Medien eine bedeutende Rolle: Unter Hashtags wie #indigenous and #NDN („Indian“) wurde auf die Situation der Menschen im betroffenen Reservat aufmerksam gemacht. „Die Mainstream-Medien dringen nicht in diese Sphäre vor“, so Cox. Es seien die indigenen Gruppen, die seit Jahrtausenden erfolgreich in Einklang mit der Natur gelebt haben – als „Wächter der Natur“. Somit müsse man sich vor allem mit Blick auf die Berichterstattung über den Klimawandel und Ereignisse wie die Standing-Rock-Proteste fragen: „Von wem könnten wir besser lernen als von den indigenen Menschen?“

Das mediale Defizit ausgleichen

Loris Taylor wurde im Dorf Oraibi im Hopi-Reservat, 200 Kilometer von Flagstaff entfernt, geboren. Sie gehört der Gruppe der Hopi an. „Heute noch gibt es in meinem Dorf kein fließendes Wasser, keinen Strom, kein Telefon oder Internet“, schreibt Taylor auf der Website des Projekts „Public Media for All“, das sich für mehr Diversität und Integration im Medienbereich einsetzt.

Heute ist Loris Taylor CEO der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt Native Public Media. „Native (Americans)“ ist die Eigenbezeichnung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, vorausgesetzt es ist keine konkrete Gruppe oder Community gemeint.

Native Public Media (NPM) wurde im Jahr 2004 gegründet, laut Taylor primär aus der Notwendigkeit heraus, „Ungerechtigkeit im Mediensektor zu überwinden“: „Indigene Gruppen waren unsichtbar und nicht in das Medienökosystem integriert. Wir waren wie große schwarze Löcher.“ Für die Massenmedien sei es nicht üblich, den ländlichen Gegenden – und damit den Reservaten – Aufmerksamkeit zu schenken.

„Wenn wir nicht unsere eigenen Geschichten erzählen, dann wird das niemand sonst tun“, erklärt Loris Taylor und schiebt dann noch etwas schärfer formuliert hinterher: „Wer nicht Teil des Narrativs der Massenmedien ist, existiert so gesehen nicht.“ Information sei ein zentrales Element von Macht und Kontrolle. Daher setze sich NPM dafür ein, einer möglichst großen Zahl indigener Gruppen die Möglichkeit zu eröffnen, unabhängigen und professionellen Journalismus zu machen.

60 Radiostationen und drei Fernsehsender bilden laut Taylor aktuell das „hyperlokale Fundament des Überlebens indigener Gruppen“. Nicht nur leiste jede Einrichtung einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft; sie seien unter anderem auch ein Grund für die hohe Impfquote in den Reservaten.

Die Klimakrise als akutes Thema

Ein zentrales Thema der indigenen Berichterstattung sei der Klimawandel. „Es ist jedoch nicht länger bloß ein ‚Wandel‘“, sagt Taylor. „Es ist eine Krise.“ Die indigenen Gruppen Amerikas, beispielsweise in Alaska, zählen zu den ersten Menschen, die als Klimaflüchtlinge von den direkten Auswirkungen der Krise betroffen waren. „Vor allem bei Fluten und Waldbränden, immer dann, wenn akute Lebensgefahr herrscht, sind Radio und Fernsehen unfassbar wichtig“, erklärt Taylor.

Mit Blick auf den aktivistischen Aspekt der indigenen Medien sagt die CEO: „Wir sollten keine Diskussionen mit Gummigeschossen führen. Jeder Mensch hat das Recht, als Journalist von vor Ort zu berichten.“ Daher sei der Leitspruch aller NPM-Einrichtungen: „Wir sind hier.“ Die Klimakrise sei eine Bedrohung für alle Menschen und für die indigenen Gruppen im Besonderen. „Wir halten eine Fackel in den Händen, um die dunklen Winkel zu beleuchten. Damit wollen wir auch ein Licht der Hoffnung sein, für alle Journalisten auf der Welt“, sagt Loris Taylor.

Demokratie braucht Minderheitenjournalismus

Die Leistungen des indigenen Journalismus‘ in Nordarizona und anderen Teilen der Vereinigten Staaten sind augenöffnend – und zeigt, wie Minderheitenjournalismus verstanden werden muss: nicht als bloße Inanspruchnahme des Rechts, eine Stimme zu haben, sondern als Warnung, dass das Überhören dieser Stimme fatale Folgen haben kann – nicht nur für die betroffene Gruppe, sondern für die gesamte Gesellschaft.

Der Einbindung indigener Gruppen in den Vereinigten Staaten in den akademischen und medialen Diskus sind Jahrzehnte der Diskriminierung vorangegangen. Projekte wie Native Public Media, dessen Stimme laut eigener Angabe bis in den Kongress und ins Repräsentantenhaus reicht, leisten durch die Ausstattung indigener Gruppen mit dem Werkzeug des Journalismus einen zentralen Beitrag zur demokratischen Herangehensweise an Probleme, die uns alle betreffen, wie beispielsweise die Klimakrise.

Laut Bundesinnenministerium gibt es in Deutschland vier anerkannte nationale Minderheiten: die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe, Sinti und Roma und die Sorben. Während vor allem die in den Küstengebieten ansässigen Friesen und dänischen Südschleswiger akut vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen sind, sind Sorben und Roma häufig rechtsextremer Gewalt und Alltagsrassismus, aber auch der Gefährdung ihrer Kultur und Sprache durch drohende Umsiedlung und allgemeine Verstädterung ausgesetzt. Angemessener Minderheitenjournalismus, der auf diese konkreten Probleme und Gefahren aufmerksam macht, muss aktiv von der demokratischen Masse und von etablierten journalistischen Einrichtungen getragen werden, um – so wie im Fall der Native Americans in Nordarizona – effektiv seiner Informationsaufgabe nachgehen zu können.

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