Europa-Berichterstattung am Scheideweg

13. März 2015 • Internationales, Qualität & Ethik • von

Ist der wachsende Europa-Skeptizismus auch eine Folge der medialen Berichterstattung über die EU? Folgt man John Lloyd und Cristina Marconi, dann ist die Antwort auf diese Frage ein verhaltenes Ja. Denn zum einen schrumpft der Korrespondenten-Pool und damit die Berichterstattungskompetenz in Brüssel seit Jahren. Statt hauptberuflich festangestellter Journalisten seien immer mehr freie Mitarbeiter im Einsatz.

Damit seien es immer öfter die Heimatredaktionen, die in der Berichterstattung den Ton angeben und wohl auch, von Süditalien und Griechenland bis ins Vereinigte Königreich und nach Skandinavien, nationalen Sichtweisen auf den Brüsseler EU-Moloch den Vorzug geben, mögen diese auch noch so verzerrt sein.

Zum anderen seien die verbliebenen Journalisten in Brüssel wohl im Lauf der Jahre kritischer geworden: eine proeuropäische Einstellung bedeute nicht mehr, dass die Korrespondenten die Sichtweisen der EU-Kommission automatisch teilten. Die ersten Korrespondenten-Generationen seien – mit Ausnahme der Briten – einfach passionierte Europäer gewesen, die sich mehr „als Teil des Projekts“ denn als kritische Beobachter gesehen hätten. Diese Grundstimmung, nach den beiden Weltkriegen „auf der richtigen Seite der Geschichte“ zu sein, sei den heutigen Europa-Berichterstattern abhandengekommen.

Lloyd ist Senior Research Fellow am Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford, und Marconi eine italienische freie Journalistin, die als Korrespondentin in Brüssel gearbeitet hat, bevor sie nach England überwechselte. Sie haben gemeinsam 33 namentlich genannte, in Brüssel akkreditierte Journalisten und mehrere anonym bleibende EU-Pressesprecher befragt, um Näheres über die Veränderungen der EU-Berichterstattung in Erfahrung zu bringen. Ihre Einsichten sind zumindest teilweise desillusionierend: Die Struktur der EU und ihre Funktionsweise machten es den Journalisten schwer, eine breitere Öffentlichkeit für europäische Politik zu interessieren. Die Arbeitsprozesse speziell in der EU-Kommission seien „langsam, komplex und für Laien schwer begreiflich“, und vor allem für das Fernsehen gäbe es kaum Bebilderungschancen, die beim Zuschauer keine gähnende Langeweile entstehen ließen. Es fehlten schlichtweg die „Gladiatoren-Kämpfe“, die in den nationalen Arenen Politik spannend machten.

Allenfalls für populistische Medien, zu denen die Autoren vor allem die Bild-Zeitung und in Grossbritannien die Sun und die Daily Mail zählen, würde etwas herausspringen – der Preis dafür sei dann allerdings, dass sie eine kämpferisch-gegnerische Position zur EU einnähmen und sich nicht nur von der EU-Kommission, sondern auch von ihren Journalisten-Kollegen krasse Ungenauigkeiten und Verzerrungen vorhalten lassen müssten. Das ist eine These, die durch Inhaltsanalysen zu erhärten wäre. Womöglich wird hier Bild trotz aller Tendenzen, die EU-Bürokratieauswüchse anzuprangern, vorschnell in einen Topf mit den britischen Krawall-Gazetten geworfen.

Zu den Stärken des Buches zählen die beiden Kapitel, die sich mit der Berichterstattung über die Finanz- und Eurokrise auseinandersetzen. Die Krise habe das Publikums-Interesse an Berichten aus Brüssel rapide ansteigen lassen. Die Korrespondenten seien jedoch schnell an ihre Grenzen gestoßen, schon weil die allerwenigsten von ihnen über ein Wirtschafts-Studium oder solide Finanz-Kenntnisse verfügten. Und weil die Märkte so hektisch und heftig auf jede Äußerung reagierten, sei seitens der Kommission während der Krise auch „obsessiv“ versucht worden, „die Kommunikation zu kontrollieren“.

Auch im Blick auf die Zukunft haben die Autoren gemischte Gefühle: Die zentrifugalen Kräfte in Europa hätten stark zugenommen, und mit den antieuropäischen Gruppen im Parlament gebe es zum ersten Mal ein „Potential für wirkliche Dramen und Debatten über die fundamentalsten Fragen“, sprich: ob es für die EU überhaupt noch „eine Existenzberechtigung“ gebe. Damit würde es aber für die Reporter noch schwieriger, substantielle politische Entscheidungen in der Union zu erklären. „Für einen Journalismus, der die Mächtigen zur Rechenschaft ziehen und im öffentlichen Interesse agieren“ will, mache das „wenig Unterschied“. Für Medien, welche die Aufmerksamkeit der Publika für Europa gewinnen wollten, sei die neue, konfliktträchtige Konstellation dagegen „ein großer Schritt vorwärts“.

Erstveröffentlichung: Neue Züricher Zeitung vom 10. März 2015

Literatur:

John Lloyd/Cristina Marconi (2014) Reporting the EU. News, Media and the European Institutions, Reuters Institute for the Study of Journalism, London/New York: I.B. Tauris

 

Bildquelle: euranet_plus/flickr.com

 

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