Nur selten schaffen es Medienforscher in die Boulevard-Medien. Jeff Jarvis allerdings wurde kürzlich von Bild-Chefredakteur Kai Diekmann zitiert – und instrumentalisiert wie der Blick auf den US-amerikanischen Journalismus zeigt.
Er ist ein begnadeter Selbstdarsteller, und er kann gnadenlos sein im Umgang mit Kritik: Kai Diekmann, Chefredakteur der Bild-Zeitung. Einst hat er eine Rüge des Deutschen Presserats an seinen Recherchemethoden in Selbstlob verwandelt und behauptet, der Rüffel zeige eben, wie gründlich seine Truppe investigiert. Und jetzt hat er, merkwürdigerweise unbemerkt von all den Bloggern und Kollegen aus der Journaille, die ihm ja sonst gerne mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung auf die Finger sehen, neuerlich einen Coup gelandet, indem er einen anderen hochtalentierten Selbstdarsteller für seine Zwecke eingespannt hat: der New Yorker Internet-Guru und Journalistik-Professor Jeff Jarvis, der derzeit womöglich weltweit prominentesten Vertreter seines Fachs, wurde von Diekmann zu seinem Kronzeugen erkoren.
Um zu rechtfertigen, dass die Bild-Zeitung das Facebook-Foto des Copiloten Andreas Lubitz unter Preisgabe seines vollen Namens vorschnell veröffentlichte (es gab zu diesem Zeitpunkt nur Verdachtsmomente, aber keinen Tatbeweis), bediente sich Diekmann des Medienforschers. Scheinheilig fragte er auf Twitter, ob seine Zeitung „einen Fehler begangen“ habe, als sie Lubitz an den Pranger stellte. Postwendend kam die erwünschte Antwort: Nein, die Namensnennung sei „im öffentlichen Interesse“.
Die Frage hätte sich Diekmann allerdings sparen können. Denn nach einer mehrmonatigen Auszeit im Silicon Valley kennt er natürlich den amerikanischen Journalismus so weit, dass er bereits vorher wusste, wie Jarvis‘ Antwort ausfallen würde: In Amerika werden solche Namen seit eh und je publiziert – ohne jedwede Rücksicht auf Privatsphäre und Betroffenheit von Angehörigen.
Diekmann hat etwas getan, was der Medienforscher Hans Matthias Kepplinger schon vor Jahrzehnten als „instrumentelle Aktualisierung“ gebrandmarkt hat. Manche Journalisten suchen eben gezielt nach Experten, die ihnen ihre vorgefasste Meinung bestätigen, statt ergebnisoffen zu recherchieren. Sie erwecken so den Anschein „redlichen“ journalistischen Mühens um Wahrheitsfindung, während sie in Wirklichkeit nur ihrem missionarischen Eifer oder kommerziellen Interessen frönen.
Wo Prominenz ist, ist meist auch die Klatsch- und Boulevardpresse nicht weit, sei das die Kronen-Zeitung in Österreich oder in Deutschland die Bild-Zeitung. Seltenheitswert hat es dagegen, dass es ein Medienforscher in deren Spalten schafft – es sei denn, er zeigt sich, wie Joe Groebel, gern öffentlich in Gesellschaft weiblicher TV-Stars und Sternchen. Die Scheinheiligkeit und Chuzpe, mit der Diekmann Jarvis für seine Zwecke instrumentalisiert hat, verdient fast schon wieder Respekt. Wie das nassforsche Vorgehen des Bild-Chefs zeigt, ist indes die Annahme naiv, dass vergleichende Medienforschung allemal segensreich ist, und dass sich, wer in medienethischen Fragen mit gutem Beispiel (auf Denglisch: „Best Practice“) vorangeht, von ganz alleine durchsetzen wird.
Erstveröffentlichung: Die Furche vom 14. Mai 2015
Bildquelle: re:publica/flickr.com
Schlagwörter:Bild-Zeitung, German Wings Absturz, Instrumentalisierung, internationale Medienforschung, Jeff Jarvis, Journalismusvergleich, Matthias Kepplinger