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Die BILD steht oft in der Kritik – doch wie stehen die Journalist:innen, die selbst bei Deutschlands reichweitenstärkster Tageszeitung arbeiten, dazu? Eine Studie gibt Einblicke in ethische Dilemmata, die Redaktionskultur und wirft die Frage auf, ob Selbstregulation im Boulevardjournalismus möglich ist.
Die BILD ist aus der deutschen Medienlandschaft für viele nicht wegzudenken. Mit über einer Million verkauften Exemplaren im dritten Quartal 2024 dominiert sie den Markt der überregionalen Tageszeitungen deutlich. Die Leserschaft kann sich darin täglich über Politik, Sport und Prominente auf dem neuesten Stand halten. Dabei bleibt eines aber nie aus: Kritik. Denn häufig dringt das Medium in die Privatsphäre von Menschen in besonders vulnerablen Situationen wie Überlebende von Gewalttaten oder Angehörige der Opfer ein, arbeitet mit Vorurteilen und muss sich nicht allzu selten des Rufmordes beschuldigen lassen. Diese und weitere Vorwürfe stellen die ethischen Grundsätze des Mediums stark in Frage. Auch der Deutsche Presserat nimmt die BILD häufig ins Visier: Sie ist das meistgerügte Medium in Deutschland. 2024 hat das Unternehmen von insgesamt 86 Rügen des Presserates 35 erhalten. Es lässt sich demnach die Frage stellen: Wie reagieren die BILD-Journalist:innen auf die Vorwürfe? Und kann das zu einer Selbstregulation im großen Spektrum des Boulevardjournalismus führen?
Die Studie
Genau dieser Frage geht eine Studie (Lilienthal, 2023) von Professor Volker Lilienthal von der Universität Hamburg nach, die 2023 in „Praxis des Qualitätsjounalismus“ veröffentlicht wurde. Dafür hat er 43 BILD-Journalist:innen qualitativ befragt. Die zahlreichen Skandale der BILD sind bereits von vielen Forschenden analysiert und bewertet worden, die sich mit dem Phänomen der BILD und ihrer vermeintlichen Ignoranz gegenüber der Kritik, die ihr entgegengebracht wird, beschäftigen. Eines hat dabei bislang aber gefehlt: der Blick ins Innere der Redaktion. Wie stehen die Mitarbeitenden zu den Grenzüberschreitungen ihres Arbeitgebers? Passen diese zu ihrem eigenen Arbeitsverständnis? Wie genau geht die BILD mit Kritik um und gibt es eine Form der Selbstregulation?
Der Blick auf die eigene Arbeitsweise
Boulevardjournalismus will Emotionen hervorrufen. Durch die Erzählung von persönlichen Geschichten und großen Skandalen kommt er der Leserschaft nahe und appelliert an ihre Gefühle. Damit identifiziert sich nach Aussagen der Befragten auch die BILD. Boulevardjournalismus steht oft in der Kritik, zu reißerisch und befangen zu sein. Es werden laut den Kritikern bewusst Ängste und bestimmte gesellschaftliche Einstellungen – etwa gegenüber Politik, Migration oder sozialen Gruppen – gefördert. Doch stehen die einzelnen Journalist:innen der BILD hinter dem Verfahren des Boulevards?
In der Befragung kommt Lilienthal zu dem Entschluss: BILD-Mitarbeitende befürworten diese Arbeitsweise grundsätzlich. Die Redaktion möchte die spannendsten und schockierendsten Storys für ihre Leserschaft schreiben. Dadurch entstehe eine Redaktionskultur, in der besonders ethische Entscheidungen, zum Beispiel über die Veröffentlichung von Fotos und privaten Informationen, vernachlässigt werden. Laut Lilienthal sei die Kommunikation zwischen der Leitung und der Redaktion durch Angst gehemmt, was dazu führt, dass die einzelnen Journalist:innen erst spät zu der Erkenntnis kommen, nicht moralisch gehandelt oder sich zu unkritsich bei Moralfragen innerhalb der Redaktion geäußert zu haben. Zwar verfügten die Journalist:innen über eine persönliche Moral, reflektieren jedoch erst im Nachhinein über bestimmte Situationen. Die Kritik an der BILD wird von den Befragten in Einzelfällen als gerechtfertigt eingestuft. Grundsätzlich würden sie deswegen aber nicht den Boulevardjournalismus als solches in Frage stellen. Denn wenn diese Grenzüberschreitungen nicht geschehen würden, bräche die Idee der BILD als solches zusammen – und genau solche Inhalte erwarte die Leserschaft.
Der Druck
Warum handeln die betroffenen Journalist:innen dennoch häufig gegen ihre eigene ethische Vorstellung? Eine Befragte gibt an, dass es häufig zu innerredaktionellem Druck komme. Führungspersonen erwarten gewisse persönliche Angaben der Betroffenen oder sogar Fotos von Opfern. Wenn die zuständigen Redakteur: innen diese nicht liefern, werde immer weiter danach gefragt oder Kolleg:innen damit beauftragt.
Zusätzlich kommt hinzu, dass laut den Angaben der Befragten innerhalb des Unternehmens keine Regeln zum Umgang mit Persönlichkeitsrechten kommuniziert werden. Selbst Journalist:innen in Leitungspositionen haben keine formalen Vorgaben, wie sich die BILD zu solchen Fällen positioniert.
Wer trägt die Verantwortung?
Für einige Journalist:innen innerhalb des Mediums trägt die BILD durchaus auch Verantwortung für diejenigen, über die sie berichtet. So sei wichtig zu hinterfragen, ob Personen in Gefahr gebracht oder gewisse Stereotypen reproduziert werden. Doch handelt das Unternehmen der BILD wirklich so? Nach Äußerungen des Chefredakteurs Johannes Boie wolle man die Verantwortung zukünftig ernster nehmen, indem auf den ersten drei Seiten weniger Meinung als Fakten präsentiert werden sollen.
Wird sich die BILD je ändern?
Nimmt man die Aussage von Chefredakteur Boie von 2022 ernst und schaut auf die aktuellen Rügenzahlen der BILD, hat sich seitdem nichts verändert. Das Verkaufskonzept der Provokation und ethischen Grenzüberschreitung funktioniert für das Unternehmen zu gut. Inwieweit sich die Strukturen innerhalb der Redaktion nach der Befragung 2020 verändert haben, lässt sich nicht beantworten. Doch was zeigt die Studie nun? Für die BILD scheint der Boulevardjournalismus der richtige Weg zu sein, für den einige Kritiken und Rügen in Kauf genommen werden. Grenzüberschreitungen werden oft nicht als solche angesehen und die vermeintliche Verantwortung gegenüber Betroffenen, die das Unternehmen selbst bei sich sieht, wird hinter die öffentliche Aufmerksamkeit gestellt. Dennoch – und genau das macht diese Befragung deutlich – hinterfragen die einzelnen Journalist:innen innerhalb der BILD-Redaktion ihr eigenes Handeln und ihre Einstellung zu den ethisch fragwürdigen Geschehnissen. Die Befragten setzen ihre persönliche Moral nicht mit der Moral ihres Arbeitgebers gleich. Dennoch bleiben sie bei der BILD.
Kritik an der Studie
Die Studie liefert wertvolle Einblicke in die Redaktionskultur und die ethischen Selbstwahrnehmungen von BILD-Journalist:innen. Dennoch bleiben einige Fragen offen. Die qualitative Befragung von 43 Journalist:innen ermöglicht zwar tiefgehende Analysen, lässt jedoch eine repräsentative Aussagekraft vermissen, da die Auswahl der Befragten nicht ausreichend transparent ist. Wie sieht der Einfluss wirtschaftlicher Zwänge und die Rolle der Axel Springer SE als Konzern auf die ethische Entscheidung von der BILD aus? Woher kommt die Diskrepanz zwischen der persönlichen und beruflichen Moral der Journalist:innen? Warum verändert dieser Unterschied nichts an der Arbeitsweise?
Die Studie zeigt zwar auf, dass Journalist:innen innerhalb der BILD ihre Handlungen hinterfragen, doch bleibt offen, ob und wie solche Reflexionen tatsächlich zu strukturellen Veränderungen führen könnten. Ist die Selbstregulation in einem kommerziellen Umfeld wie der BILD überhaupt realistisch, oder braucht es externe Eingriffe wie schärfere medienethische Richtlinien?
Quellen:
Lilienthal, V. (2023). Medienethik bei BILD: eine Befragung, eine Inhaltsanalyse und eine Bibliografie der Forschung zu BILD (1967-2022) (Vol. 3). zem:: dg
Schicha, C. (2019). Medienethik. utb GmbH.
https://www.presserat.de/ruegen-presse-uebersicht.html
Schlagwörter:Bild, Bild-Zeitung, Boulevard, Ethik, Rollenverständnis, Studie