Vom Sein und Sollen der Nachrichten

1. Januar 2004 • Qualität & Ethik • von

Erstveröffentlichung: Message 1/04

Enrico Morresis Buch zur Ethik des Nachrichten-Journalismus ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Es schlägt Brücken zwischen dem Norden und Süden Europas, also zwischen den romanischen und den eher angelsächsisch geprägten Journalismus-Kulturen, aber auch zwischen philosophischen Ethik-Diskursen und der journalistischen Praxis.

Der Autor, seit 1954 als Journalist tätig und im Tessin – also an der Sprachgrenze zwischen der deutschen Schweiz und dem italienischen Kulturraum – lebend, hat sich die Mühe gemacht, nahezu alles Material aufzuarbeiten, dessen er zum Thema journalistischer Ethik habhaft werden konnte.Trotz philosophischer Höhenflüge bewahrt Morresi immer auch Bodenhaftung und behält die journalistischen Alltagsroutinen im Blick. Die Ethik wird also nicht abstrakt, sondern im Kontext der Praxis behandelt. Der Autor verbaut den Fluchtweg aus den ökonomischen und kommunikativen Realitäten, in denen sich ethische Postulate zu bewähren haben, um «die Spannung zwischen Sein und Sollen, zwischen Realität und modellhafter Norm lebendig zu halten». Als Referenz bezieht er sich vor allem auf Jürgen Habermas und John Rawls – weil «sie Vorgehensweisen aufzeigen, aber zugleich substantielle Wertvorstellungen haben».

Dabei beschränkt sich Morresi sinnvollerweise auf den Nachrichten-Journalismus. Dessen jüngste, problematische Entwicklungen werden unter die Lupe genommen – die Stichworte sind Fragmentierung und Beschleunigung. Morresi denunziert eine «Ideologie der Nachricht», die – als Folgeerscheinung des information overload in modernen Gesellschaften – zu sehr auf Vereinfachung und auf das emotionale Aufladen von Themen setze. Der Autor unterstreicht, wie wichtig es aus ethischer Sicht wäre, den Journalismus zu re-legitimieren. Seine Kernthese ist, dass «Information ein öffentliches Gut» ist, und dass folglich eine «öffentliche Ethik» die Prinzipien und Regeln des Informationsjournalismus und deren Anwendung stützen sollte.

Das Buch gibt einen guten Überblick. Gelegentlich mangelnde Systematik wird mehr als wettgemacht durch viele Beispiele aus der Praxis, die das Verständnis erleichtern. Aus der besonders reichhaltigen, aber auch heterogenen Bibliographie können nicht nur Wissenschaftler Honig saugen.

Enrico Morresi. Etica della notizia. Fondazione e critica della morale giornalistica. Bellinzona: Casagrande, 2003, 281 Seiten.

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