Verlorene Generation

15. November 2007 • Medienökonomie • von

Schweizer Journalist 10 + 11 / 2007

Die Tageszeitung gilt als Auslaufmodell. Die jungen Leser werden über die Zukunft entscheiden.
„Druckerschwärze auf toten Bäumen“ nannte Andrew Gowers Ex-Chefredaktor der  Financial Times, die klassische Zeitung auf Papier. Für immer mehr Menschen weltweit scheint sie gestorben – besonders für junge Leute. Wird sie nur tot geredet? Ist sie wachzuküssen?

Jüngere lesen, wenn die Geschichten spannend sind, argumentiert Verleger Peter Wanner (AZ-Medien, Baden) mit dem Verhalten seiner Kinder, die um die 20 sind: Sie wollen nicht Fastfood- und Boulevard-Texte, sondern gut Erzähltes. Das Verhältnis der Jüngeren zur Schreib-Lese-Generation bleibt dauerhaft gestört, glaubt hingegen Philipp Ikrath von der deutsch-österreichischen Jugend-Marktforschungsagentur „TFaktory“. „Zeitung lesen hat heute keinen Wert mehr unter vielen Jüngeren, sondern wirkt eher peinlich.“ Junge Leute haben nie viel gelesen, widerspricht der Berner Medienprofessor Roger Blum. Problem der Tageszeitungen sei, dass sie in allen Leserschichten verliert. Und zwar weltweit.

Krise der Zeitung. Die Talsohle ist noch nicht erreicht, behauptet die internationale Beratungsfirma A.T. Kearney in einer aktuellen Studie: Die Zeitungsindustrie in Europa befinde sich mitten in der Konsolidierung hin zu einer hochgradigen Marktkonzentration, bis ins Jahr 2025 sei mit einer Einbusse von weiteren 25 Prozent der Auflage zu rechnen. Der Marktanteil der Leser unter 20 sinke – in den letzten 50 Jahren von 32 auf unter 23 Prozent, und bis 2025 auf 20 Prozent.

Neue Zahlen für die Deutschschweiz stellen jüngere Leser in ein helleres Licht. Die AG für Werbemedienforschung (WEMF) ermittelte für Tageszeitungen vergangenes Jahr eine Reichweite hin zu 82 Prozent der Bevölkerung, vier Prozent mehr als im Jahr 2001. Die klassischen Kaufzeitungen stagnierten, die Sonntagsblätter ebenfalls; die Gratis-Tageszeitungen verdoppelten ihre Reichweite. Tagesaktuelle Gratisblätter erreichen zwar mittlerweile fast jeden zweiten unter 30. Doch obwohl Kaufzeitungen einbüssten, behalten sie auch bei den Jüngeren die Nase vorn. Bei jenen über 30 blieb nahezu alles beim Alten: die Bereitschaft, für eine Zeitung auch zu bezahlen ist unverändert. Tageszeitungen stehen auch bei den heute unter 20-jährigen nach wie vor hoch im Kurs: Beinahe jeder zweite glaubt, dass stimmt, was da steht, dem Fernsehen traut nicht einmal jeder dritte, dem Internet nur jeder sechste, ermittelten Sabine Feierabend und Thomas Rathgeb aus Zahlen des Medienpädogischen Forschungsverbunds Südwest. Doch das nützt letztlich wenig: die meisten schauen trotzdem lieber fern oder surfen im Internet.  

Wachsen (oder melken und danach den Verlag schliessen), empfiehlt A.T. Kearney als Rezept: Wer überleben will, müsse entweder fusionieren und die Kostenvorteile eines grossen Verlagshauses nutzen oder sich auf genau abgegrenzte Leserzielgruppen konzentrieren: „Segment Gurus“ sind in Frankreich die christliche Tageszeitung La-Croix oder die auf Wirtschaftsleute ausgerichtete Tageszeitung Les Echos, die entgegen dem Trend ihre Umsätze steigerten. Drittes Rezept ist der Heimvorteil. Chance habe auch ein Blatt, das als „Local Hero“ zum „Sprachrohr“ einer spezifischen Identität oder Kultur wird. Als Erfolgsbeispiel gilt der  britische Verlag Trinity Mirror mit einem Portfolio von 240 lokalen oder regionalen Zeitungen unter seinem Dach – von einer lokalen Wirtschaftszeitung wie der Birmingham Post bis hin zur lokalen Abendzeitung Birmingham Evening Mail.

Zielgruppenorientierung. Und wo bleibt speziell die junge Generation? Jugendseiten holen sie nicht zurück –  darin stimmen Experten aus Redaktion, Verlag und Medienwissenschaft überein. „Es muss zumindest ein Supplement sein, ein eigener Bund“, sagt Peter Wanner (AZ-Medien). Ähnlich dem „Hero-Konzept“ sieht der Verleger die Zukunft in einer zielgruppenorientierten Zeitung für alle Generationen. Er könnte sich noch einen weiteren speziellen Bund innerhalb einer Zeitung speziell für ältere Lesergruppen vorstellen; man habe bereits Ideen, halte sie aber unter Verschluss.

Gratislösung.
Anbiedern nützt nichts, ergänzt Peter Hartmeier, Chefredaktor des Tages-Anzeiger. Die junge Generation muss eine Zeitung in ihrer Gesamterscheinung, in ihrer „Anmutung und Ausstrahlung“ akzeptieren. Er glaubt an den „Groove“, der Jüngere neugierig mache aufs Lesen: Sie surfen „in purer Selbstverständlichkeit vom ipod übers Internet zur Gratiszeitung“, sie suchen „nach neuen Inhalten und anderen Werten“, haben eine hohe Affinität zu Musik und Tanz und modernen Medien und zum Lokalen und Regionalen erst, sobald eine Familie gegründet ist – all dem müsse man Rechnung tragen. Jüngere schätzen und nutzen die Tageszeitung als ein Medium unter anderen, behauptet Hartmeier. Er setzt auf den Mix: Angebote für alle Generationen in einem Blatt, Print und Online, Text und Bild sowie Grafik, Kaufzeitung und Gratisblatt: Der Tagi steht – zusammen mit Berner Zeitung und Basler Zeitung in den Startlöchern für „News“, einer weiteren kostenlosen Pendlerzeitung.

Küssen die gerade bei Jüngeren beliebten Gratisblätter die Papierzeitung wach? „Nun, sie ist eben verfügbar; warum sollte man im Zug nicht seine Nase reinstecken? Es schadet ja nichts“, kommentiert Philipp Ikrath (TFaktory). Der Trend zum Internet ändere sich nicht. Medienwissenschaftler Klaus Schönbach sieht das ähnlich: „Gratiszeitungen halten den Sinkflug nicht auf, der Niedergang der Zeitung als Printformat ist kein Preisphänomen. Das ist eine Wahl. Wer Zeitung lesen möchte, lässt sich durch den Preis nicht abhalten.“ Die Gratiszeitungen üben zusätzlichen Druck aus und beschleunigen allenfalls die Entwicklung.

Medienhäuser müssen verstehen lernen, wie sich jüngere Leser informieren wollen, analysiert Martin Eppler. Der Weg führt ins Netz, die klassische Zeitung mit ihren Kommentaren und Kolumnen fällt durch, beobachtet der Professor für Informations- und Kommunikationsmanagement an der Universität Lugano. Jüngere mögen aktuelle Web-News und sinnlich auftretende Hintergrund- und Meinungsmagazine,  Kampagnen mit hohem News Value, Service sowie Raum für eine Community mit Website, Foren, Subskriptionen, Events und Clubs. Chancen habe, wer begreift, dass jüngere Leser auch jüngere Autoren und Autoritäten aus ihren Kreisen lesen wollen, und wer ihre durch die Internet-Sozialisation gereifte visuelle Kompetenz nutzt und mit anspruchsvollen Bild-Text-Kombinationen bedient.   
Die Tageszeitung bleibt als Medium der breiten Elite erhalten, prophezeit sein Berner Kollege Roger Blum: Wer Karriere macht, gleich in welchen Bereichen, „will mehr wissen als das, was man über Gratisblätter und das Fernsehen aufschnappt, und möchte bedient werden, statt sich alle Informationen über das Internet selber holen zu müssen.“
 
Allenfalls für eine Bildungsavantgarde von „Politik-Junkies“, widerspricht Philipp Ikrath. Der Marktforscher hält auch alte Hoffnung von Verlegern und Chefredaktoren auf werdende Eltern, die eine Tageszeitung abonnieren, für überholt: „Das Internet bleibt Leitmedium.“ Unaufhaltsam. Die junge Generation wolle auf alle Zeiten vernetzt und verlinkt, kurz und prägnant informiert werden – aber am liebsten nicht über Politik: „Politiker haben eine extrem schlechtes Image.“

Zukunftsrezepte.
Das Interesse an öffentlichen Angelegenheiten nimmt ab, das schadet allen Formaten, die über Politik und Kultur informieren werden, bestätigt Klaus Schönbach. Der in Friedrichshafen und Amsterdam lehrende Medienprofessor erforschte Erfolgsfaktoren für Tageszeitungen – luftiges Layout, klare Seitenarchitektur, spannend angepackte Themen. Das hält diesen Trend nicht auf, behauptet er, aber nütze, um es dem Leser nicht auch noch schwer zu machen. Ob, wie und wann sich das Desinteresse an Politik umkehrt, lasse sich nicht sagen. Sicher sei: „In 20 Jahren gibt es keine Papierzeitung mehr. Zeitungen werden auf rollbare Folien runtergeladen.“ Für Liebhaber gebe es in kleinen Auflagen, vielleicht gar auf Bütten gedruckte Zeitungen.

Das elektronische Massenblatt der Zukunft sieht in Schönbachs Vorstellung anders aus als Online-Zeitungen heute, eher wie eine klassische Zeitung, die nicht nur Meldungen, sondern auch überraschende Inhalte anbiete – nur eben quasi „auf elektronisch“. Noch hinkt die Technik. Schönbach: „Die wirkliche Neuerung würde darin bestehen, dass sich eine solche Zeitung zu einem Format ausbreiten lässt so gross wie eine klassische Zeitung.“

Wer weiss, vielleicht philosophieren dann dereinst die Jüngeren, wie sie die Älteren bewegen, ein e-paper zu abonnieren – oder ob diese eine verlorene Generation sind…

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