Steht Risiko drauf, wo Risiko drin ist?

28. Oktober 2013 • Ressorts • von

Autorin Silje Kristiansen forscht im Rahmen ihrer Dissertation zur Berichterstattung über Atomenergie und Atomkraftwerk-Unfälle. Der folgende Artikel zeigt auf, wie Medien über Fukushima, Tschernobyl und Three Mile Island berichteten und welche Themen dabei im Vordergrund standen.

Im Idealfall sollten Medien über Risiken mit hohem Schadenspotenzial informieren, indem sie die Informationen von Experten kritisch evaluieren und an die Bevölkerung weitergeben, also Risikoberichterstattung betreiben. Atomkraftwerke (AKW) sind stark risikobehaftet. Solange die Dampfschwaden der AKW-Kühltürme aber mit stoischer Ruhe in die Höhe treiben und kein Unglück passiert, glänzt das Thema in den Medien meist durch Abwesenheit. Das Risiko kommt meistens nur nach einem AKW-Unfall in den Medien zur Sprache.

Im Folgenden wird ein Blick auf die Berichterstattung in der Schweizer Presse nach den drei größten AKW-Unfällen geworfen und analysiert, inwieweit das Risiko dabei thematisiert wurde. 

Der erste größere AKW-Unfall geschah 1979 in den USA im Atomkraftwerk Three Mile Island, bei dem im Vergleich zu den darauffolgenden Unfällen nur wenig ionisierende Strahlung freigesetzt wurde; der Unfall wurde mit einer Fünf auf der siebenstufigen INES-Skala (International Nuclear Event Scale) bewertet. Im Jahre 1986 kam es in Tschernobyl in der Ukraine zu einem Unfall, der auf der Skala mit der höchsten Unfallkategorie bewertet wurde. Im Jahr 2011 traf es das technologisch hochentwickelte Land Japan: Der Unfall in Fukushima wurde ebenfalls mit einer Sieben bewertet. Die drei Unfälle verteilen sich über einen Zeitraum von über 30 Jahren, in dem sich bezüglich Einstellung zur Technik im Allgemeinen und Atomkraft im Speziellen vieles verändert hat.

Auch die Medienberichterstattung hat sich über diesen Zeitraum hinweg verändert. Nach jedem der drei Unfälle sind mehr und längere Artikel publiziert worden. Nach dem ersten Unfall im Jahr 1979 war das häufigste Thema die Atom- und Energiepolitik; in fast der Hälfte der Artikel kam es zur Sprache. In 35 Prozent der Artikel war das Risiko Hauptthema der Berichterstattung. Nach Tschernobyl waren die zwei am häufigsten vorkommenden Themen die ionisierende Strahlung, über die in etwas mehr als 40 Prozent aller Artikel berichtet wurde. In 37 Prozent der Artikel war der AKW-Unfall an sich das Hauptthema. Das am dritthäufigsten vorkommende Thema war die Gesundheit (24 Prozent), das Risiko kam an vierter Stelle und wurde in 22 Prozent der Artikel thematisiert.

Nach Fukushima waren der Unfall an sich sowie die Atom- und Energiepolitik die wichtigsten Themen in der Schweizer Berichterstattung (jeweils 37 Prozent). Die Opfer der Katastrophe wurden in 31 Prozent der Artikel thematisiert, das Risiko in 28 Prozent der Artikel. Die Risiko-Thematik wurde in der Schweizer Berichterstattung nach Three Mile Island viel prominenter platziert als nach Tschernobyl, obwohl dort eine viel schlimmere Katastrophe passierte. Während nach Three Mile Island der Atomausstieg in 22 Prozent der Artikel thematisiert wurde, kam er nach Tschernobyl nur in 14 Prozent der Artikel zur Sprache. Denn der Tenor nach dem Unfall in der Ukraine war ein anderer als nach dem Unglück in den USA: Der Ukraine wurde nicht viel Expertise zugebilligt, im Westen herrschten strengere Sicherheitsvorkehrungen und andere Bauweisen – was dort passiert war, war hierzulande wohl eher unwahrscheinlich.

Von der radioaktiven Wolke war die Schweiz aber direkt betroffen. Vermutlich deswegen und aufgrund der restriktiven Informationspolitik der damaligen Sowjetunion waren Messergebnisse − also überprüfbare Fakten − das prominenteste Thema in den Schweizer Medien. Nach dem Unfall in Japan aber konnte nicht länger das Argument eines wenig technologisch entwickelten Landes gebracht werden. Wenn so etwas in Japan passieren kann, könnte es hierzulande auch passieren. In der Schweiz herrscht zwar keine Tsunami-Gefahr, aber Erdbeben und Hochwasser gibt es auch hier. Die Risiken der Atomkraft waren demnach nach dem AKW-Unfall in Fukushima häufiger ein Thema in Schweizer Medien, in einem Viertel der Artikel wurde bereits in der ersten Woche der Atomausstieg thematisiert.

Insgesamt kamen in der Berichterstattung über die drei AKW-Unfälle in 42 Prozent aller Artikel Expertinnen und Experten zu Wort, was darauf hindeutet, dass das Informationsbedürfnis nach AKW-Unfällen groß ist; Aussagen von Expertinnen und Experten helfen die Katastrophe zu kommentieren und einzuordnen. In der Berichterstattung direkt nach dem Unfall ist Risiko zwar nicht das prominenteste Thema, aber es kommt häufig vor. Mit Blick auf die Thematisierung des Atomausstiegs kann gefolgert werden, dass aufgrund der Unfälle, der Berichterstattung darüber und der aktualisierten Risikowahrnehmung doch ein Umdenken stattgefunden hat. Risikoberichterstattung ist damit ein wesentlicher Teil der Berichterstattung über AKW-Unfälle in den analysierten Schweizer Medien.

Informationen zur Studie:

Die Inhaltsanalyse von Silje Kristiansen ist eine Teilstudie ihres Dissertationsprojekts, an dem sie am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ) der Universität Zürich arbeitet. Gegenstand der Inhaltsanalyse war die themenrelevante Berichterstattung in den Schweizer Tageszeitungen NZZ, Tages Anzeiger und Blick in der ersten und vierten Woche nach den drei AKW-Unfällen (Anmerkung: Nach Three Mile Island wurde der Zeitraum für Blick auf alle vier Wochen nach dem Unfall ausgeweitet, um sieben Artikel mehr in das kleine Sample zu holen). Dadurch kamen insgesamt 526 Artikel zusammen, 122 davon wurden im Anschluss an Three Mile Island publiziert, 109 Artikel berichteten über Tschernobyl und 295 über Fukushima.

Literatur:

Boos, Susan (1999): Strahlende Schweiz. Handbuch zur Atomwirtschaft. Zürich.

Corey, G. R. (1981): A Brief Review of the Accident at Three Mile Island. In: IAEA Bulletin 21, H. 5, S. 54–59.

Friedman, Sharon M. (2011): Three Mile Island, Chernobyl, and Fukushima: An analysis of traditional and new media coverage of nuclear accidents and radiation. In: Bulletin of the Atomic Scientists 67, H. 5, S. 55−65.

IAEA (2011): Fukushima Nuclear Accident Update Log. In: http://www.iaea.org/newscenter/news/2011/fukushima120411.html (18.07.13)

IAEA/OECD (o.J.): INES. In: http://www.iaea.org/Publications/Factsheets/English/ines.pdf (18.07.13)

Kepplinger, Hans Mathias (2011): Realitätskonstruktionen. Wiesbaden.

Kristiansen, Silje/Bonfadelli, Heinz (2013): Radioaktive Strahlung ist unsichtbar, löst aber einen Klimawandel in der Bevölkerungsmeinung aus – Meinungsklima, Risikoeinschätzung und Informationsverhalten im Nachgang zu Fukushima. In: atw International Journal for Nuclear Power 58, H. 4, S. 242−247.

Bildquelle: Thommy Weiss  / pixelio.de

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