Maßanzug für die Leser

19. Mai 2010 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Weltwoche Nr. 19/2010

Der Economist wärmt erfolgreich die alte Küchenregel auf:  Die Würze liegt in der Kürze.

Stefan Aust, der frühere Chefredaktor des Spiegels, kann sein Projekt einer Spiegel-Konkurrenz vergessen. Die WAZ-Mediengruppe und der Springer-Verlag steigen bei seiner geplanten Woche nicht ein. Sie sehen keine Chance für ein neues deutsches Nachrichtenmagazin.  Wer ein Nachrichtenmagazin will, kann das dennoch haben. Newsweek steht zum Verkauf.
Newsweek ist ein Monument der Pressegeschichte. 1933 gegründet, erreichte das Blatt zu seinen besten Zeiten eine Auflage von 4 Millionen. Jetzt sind es noch 1,5 Millionen. Der Jahresverlust liegt bei 29,3 Millionen Dollar. Die Mutter Washington Post stößt ihre Tochter ab. Der Verkauf von Newsweek wie die Absage an Stefan Aust sind artentypisch. Die Gattung der Newsmagazine ist weltweit in der Krise mit einer wunderbaren Ausnahme.

Anhand der Nachrichtenmagazinen lässt sich der Wandel der Medienindustrie hübsch nachzeichnen. Die meisten entstanden zwischen 1930 und 1970. Es war die Zeit, als die Medienwelt noch schön geordnet war. Die Zeitungen druckten täglich die aktuellen News. Die Magazine vertieften einmal wöchentlich diese News und lieferten Hintergründe dazu. Das Internet hieß damals Arpanet und interessierte nur das Verteidigungsministerium der USA.
Titel wie Newsweek, Time, U.S. News & World Report, Business Week, LExpress, Le Nouvel Observateur, Elsevier-Fachpublikationen, Panorama, Spiegel und Economist wurden zu Leitmedien ihrer Generation.

Ihr Erfolg basierte auf zwei Faktoren. Die Magazin-Journalisten konnten ausgiebig und ohne Konkurrenz der Tagespresse recherchieren. Sie lieferten ihren Lesern darum regelmäßig spektakuläre Skandale und Scheinskandale. Dazu beeindruckten sie ihr Publikum mit einem verblüffenden Wissensvorsprung. Der Vorsprung basierte auf ihren Archiven mit Millionen von Zeitungsausschnitten. Um 1970 beschäftigte beispielsweise die Spiegel-Dokumentation 100 Mitarbeiter.

Dann begannen auch Tageszeitungen, Recherchen und Hintergründe anzubieten. Sie taten dies, weil ihnen Radio und TV in der Aktualität zunehmend die Show stahlen. Als sich ab 1994 der riesige Datentopf des Internets öffnete, wurde dieser Prozess nochmals beschleunigt. Der Wissensvorsprung der Nachrichtenmagazine und ihre riesigen Archive waren über Nacht wertlos geworden.

Newsweek ist also zu haben. Business Week wurde für lächerliche fünf Millionen Dollar von Bloomberg übernommen. News & World Report erscheint nur noch monatlich. LExpress wurde nach Belgien verkauft. Panorama wird von Silvio Berlusconi durchgefüttert. Der Spiegel stagniert. Die Auflage von Focus rutschte von 820 000 auf 580 000. Facts in der Schweiz wurde 2007 eingestellt.

«Talent und Qualität»

Damit kommen wir zur Ausnahme. Das einzige Newsmagazin mit Wachstum ist der britische Economist. Er verdreifachte seit 1995 seine Auflage und kommt mittlerweile auf 1,4 Millionen Stück. Der Gewinn geht gegen 100 Millionen Franken.

Alle großen Ausnahmen haben einfache Erklärungen. Beim Economist ist es das publizistische Konzept. Es orientiert sich am eiligen, intelligenten Leser. Die Artikel sind auch bei komplexen Themen kurz bis sehr kurz. Die Texte sind schnörkellos. Stilistische Eleganz ist verpönt. Fotos gelten als unnötig. Die Redaktion ist klein, gerade mal 80 Köpfe. Chefredaktor John Micklethwait trägt Maßanzüge und rahmengenähte Schuhe und sagt: «Ich glaube, es zählt nur Talent und Qualität.»

Der Economist ist das Gegenteil des heute üblichen Journalismus. Heutige Journalisten sind geschwätzig, emotionell und anspruchslos. Der Economist schreibt kurz, kühl und kompetent. Erfolgreicher Journalismus kann so einfach sein.

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