Aktuelle Konflikte, technologische Entwicklungen und Debatten spielen sich auf einer immer globaleren Ebene ab – nicht zuletzt betrifft das auch die Medien. Die Kommunikationswissenschaft allerdings hat in Punkto Internationalisierung noch Einiges aufzuholen. EJO-Fellow Aydan Adzhimuradova spricht mit Frau Prof. Dr. Carola Richter, der Koordinatorin des DFG-Netzwerks „Kosmopolitische Kommunikationswissenschaft“, über den aktuellen Stand der deutschen Kommunikationswissenschaft und die Rolle des Kosmopolitismus. Im Zentrum stehen nicht nur Forschungsthemen, sondern auch die laufenden Projekte des Netzwerks.
Aydan Adzhimuradova: Was bedeutet „Kosmopolitismus“?
Carola Richter: Innerhalb unseres Netzwerks verwenden wir synonym auch den Begriff “tiefe Internationalisierung”. Es geht bei Kosmopolitismus also nicht nur darum, sich mit Themen außerhalb des deutschen Raums zu befassen, sondern darum, Perspektiven, Interessen und sogar die Gegenstände unserer Forschung wirklich als kosmopolitisch zu betrachten – als etwas, das tatsächlich transnational ist und einen globalen Einfluss auf alle Lebensbereiche hat. Dies sollte unsere Forschung und Sichtweisen entsprechend lenken.
Die Geschichte deutet darauf hin, dass die deutsche Öffentlichkeit Phasen durchlebt hat, in denen das Land nicht nur global, sondern auch auf lokaler Ebene relativ isoliert war. Seit wann existiert jedoch eine kosmopolitische Ausrichtung im deutschen Raum?
Es wird in der Diskussion oft kritisiert, dass es in der deutschen Kommunikationswissenschaft bisher keine deutlich ausgeprägte kosmopolitische Ausrichtung gibt. Früher und immer noch wird Internationalisierung oft vereinfacht als Fokus auf die USA und Westeuropa betrachtet und das Publizieren in englischer Sprache als Ausdruck von Internationalität angesehen. Sicherlich gab es in den letzten Jahrzehnten in der wissenschaftlichen Gemeinschaft einzelne Personen, die sich zum Ziel gesetzt haben, über den deutschen oder eurozentrischen Tellerrand hinauszuschauen. Dennoch sind daraus kaum strukturelle Änderungen erwachsen, bis heute sind vor allem Einzelkämpfer auf diesem Gebiet zu finden. Daher würde ich sagen, dass eine echte kosmopolitische Tradition erst noch entwickelt werden muss.
Was hat dazu beigetragen, die Notwendigkeit, eine kosmopolitische Perspektive in dem deutschen Kontext zu entwickeln, zu erkennen?
Ich glaube, spätestens seit den 1990er Jahren ist ein Bewusstsein dafür gewachsen, dass eine stärkere internationale Ausrichtung notwendig ist, insbesondere mit dem Ende der Systemkonfrontation zwischen West und Ost. Danach entstand eine gewisse Aufbruchstimmung. Die Forschungsagenda wurde durch Technologien wie Satellitenfernsehen und Internet bedeutend beeinflusst. Die Einführung globaler Kommunikationstechnologien hat gezeigt, dass diese in verschiedenen Regionen unterschiedliche Auswirkungen auf Strukturen haben und unterschiedlichen Bedingungen unterliegen. Eine weitere Welle des Interesses an globalen Themen wurde in der Kommunikationswissenschaft in den 2010er Jahren durch politische und gesellschaftliche Umbrüche wie den sogenannten Arabischen Frühling, Protestbewegungen in Hongkong, Lateinamerika und Osteuropa ausgelöst. Dies führte zur Erkenntnis, dass in diesen Regionen viel im Bereich der Medien geschieht, was uns zuvor vielleicht nicht bewusst war. Dies hat einen zusätzlichen Anstoß für die Forschung gegeben, über den europäischen Tellerrand hinauszuschauen und vergleichende Studien anzustellen.
Welche Bedeutung haben internationale Kooperationen heutzutage sowohl für das Netzwerk als auch für die deutsche Kommunikationsforschung?
Heutzutage sind internationale Kooperationen generell wichtiger geworden, da viele Forscherinnen und Forscher sie oft als Instrument nutzen, um Drittmittel einzuwerben und zu erhalten. Deshalb wird oft sehr pragmatisch vorgegangen: Gibt es jemanden aus dem globalen Süden, mit dem ich zusammenarbeiten kann? Dabei entsteht jedoch häufig das Problem asymmetrischer Teamstrukturen und eurozentrischer Forschung. Dies ist etwas, das wir in unserem Netzwerk eigentlich vermeiden möchten. Stattdessen möchten wir die Idee fördern, dass man von einer Auseinandersetzung mit dem globalen Süden profitieren kann, indem man mit Personen von dort auf Augenhöhe kooperiert. Ein weiterer Aspekt, den wir in unserem Netzwerk immer wieder betonen, ist die Wichtigkeit, das Bewusstsein der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schärfen, dass dies nicht nur eine instrumentelle Funktion hat, sondern dass es tatsächlich einen Mehrwert für die Perspektivierung der kommunikationswissenschaftlichen Forschung darstellen kann.
Was wird unter einem instrumentellen Mindset verstanden?
Mit instrumentell meine ich, dass oft eine strategische Vorgehensweise angewandt wird, um einen Forschungsantrag optimal zu positionieren und somit gute Chancen auf Fördermittel zu haben. Dabei wird weniger darüber nachgedacht, welche Perspektiven und interessanten Erkenntnisse diese neue Kooperation bringen können. Häufig wird dann auch einfach politisch motivierten Förderausschreibungen gefolgt. Zum Beispiel gibt es seit Beginn des Ukraine-Konflikts ein erhebliches Interesse an der Förderung von Forschungsprojekten dort und in Osteuropa. Ähnlich verhielt es sich während des Arabischen Frühlings Anfang der 2010er Jahre, als verstärkt Projekte mit Tunesien durchgeführt wurden oder Mittel für Transformationsländer wie Ägypten bereitgestellt wurden. Diese rein instrumentelle Herangehensweise an internationale Kooperationen ist dann leider oft mit wenig genuinem Interesse an Ideen und Perspektiven der Kollegen und Kolleginnen aus den Regionen verbunden.
Wie beeinflusst die Globalisierung die Forschungsthemen und Methoden in deutscher Kommunikationswissenschaft?
Es scheint einen starken Fokus darauf zu geben, was in Deutschland geschieht, und weniger darauf, welche globalen Entwicklungen beobachtet werden könnten und wie diese in Förderprogrammen oder Strukturen berücksichtigt werden. Beispielsweise gibt es einen deutlichen Trend hin zur verstärkten Auseinandersetzung mit Themen wie Computational Methods oder künstlicher Intelligenz, wobei ganze Forschungsprogramme oder Professuren darauf ausgerichtet werden. Ebenso gewinnen Bereiche wie Gesundheitskommunikation, das während der Pandemie stark in den Mittelpunkt gerückt ist, oder Wissenschaftskommunikation zunehmend an Bedeutung. Insofern würde ich sagen, dass Globalisierung hier eher in Form bestimmter thematischer Trends präsent ist, aber nicht als Teil eines umfassenden Programms.
In welchem Ausmaß integriert die deutsche Kommunikationswissenschaft heute internationale Perspektiven in Forschung und Lehre?
Unsere Untersuchungen deutscher Studienprogramme im Bereich Kommunikationswissenschaft und Journalistik ergaben, dass internationale Themen oder Regionen außerhalb Europas nur sehr wenig Berücksichtigung finden. Wir haben eingehend die Modulhandbücher sowie die Vorlesungsverzeichnisse eines Jahres analysiert. Dabei stellten wir fest, dass zwar in etlichen Studiengängen einige Standardkurse wie beispielsweise zu Mediensystemen und ihrem Vergleich angeboten werden, jedoch die Auswahl an internationalen Themen stark von den einzelnen Dozierenden und Standorten abhängt. Außerdem haben wir bei unserer Untersuchung kodiert, welche Länder oder Regionen in den Seminarinhalten angesprochen werden. Dabei wurde deutlich, dass der internationale Fokus in der Regel auf Europa und die USA beschränkt sind, während andere Regionen kaum oder gar nicht behandelt werden.
Es gibt zwar teilweise Spezialisierungen, bei denen sich einzelne Dozierende mit bestimmten Gebieten wie Russland, Osteuropa oder Israel befassen, jedoch ist dies stark vom persönlichen Engagement abhängig und nicht strukturell in der deutschen kommunikationswissenschaftlichen Lehre verankert.
Wie beeinflusst der Mangel an Expertise zu bestimmten Regionen in der Kommunikationswissenschaft das Verständnis von lokalen Konflikten und Phänomenen?
Es ist entscheidend zu verstehen, wie Medien vor Ort genutzt werden, welche strukturellen Rahmenbedingungen die Medien beeinflussen können, und welche politischen und medialen Diskurse vorherrschen. Wenn einem diese Informationen fehlen, betrachtet man die Situation nur von außen und urteilt nach normativen Maßstäben, die man aus der westlichen Perspektive heraus hat. Man kann dann die Komplexität und die lokalen Perspektiven des Kontexts nicht angemessen erklären. Wenn dann Konflikte auftreten oder Kriege ausbrechen, zeigt sich schnell, dass viele in der Wissenschaft und Forschung einfach politischen Leitbildern folgen und die komplexe Rolle von Medien und Diskursen in diesen Konflikten nicht ausreichend hinterfragen oder verstehen. Das Problem liegt dann in der Vereinfachung und Simplifizierung von komplexen Erklärungen aufgrund des Mangels an Expertise.
Angesichts der aktuellen politischen Konflikte: Wie können deutsche Kommunikationswissenschaftler dazu beitragen, Missverständnisse oder Vorurteile im internationalen Diskurs abzubauen?
Ein Beispiel für problematisches Medienhandeln ist die Tendenz, durch die ständige Reproduktion von Stereotypen Klischees entstehen zu lassen. Diese Vorurteile manifestieren sich beispielsweise in der deutschen Berichterstattung über Ereignisse in Ländern wie China, Brasilien oder Afrika, wo ganze Kontinente oft vereinfacht als bedrohlich dargestellt werden.
Dies ist äußerst problematisch, da es zu konfliktreichen Themen im politischen und medialen Diskurs führt, Vorurteile verstärkt und Feindbilder gegenüber Menschen und Kulturen schafft. Die Wissenschaft sollte auf solche Probleme hinweisen. Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, besteht darin, für mehr Sensibilisierung zu sorgen. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre die Förderung der Medienkompetenz, nicht nur bei Journalisten und Journalistinnen, sondern auch in der breiten Bevölkerung. Es geht darum, die Menschen dafür zu sensibilisieren, wie sie mediale Diskurse und Inhalte, sei es in den traditionellen Medien oder in den sozialen Medien, dekonstruieren und kritisch hinterfragen können.
Frau Richter, als Koordinatorin des DFG-Netzwerks, könnten Sie uns sicherlich über die bisherigen Meilensteine während der Laufzeit des Netzwerks berichten. Zudem interessiert uns, welche der Projektziele bereits erreicht wurden und welche geplanten Aktivitäten für die Zukunft vorgesehen sind?
Während des Startjahres 2021, inmitten der Corona-Pandemie, haben wir uns eingehend mit den Strukturen und Studiengängen an deutschen Hochschulen beschäftigt, um zu prüfen, ob dort Ansätze für eine vertiefte Internationalisierung vorhanden sind. Dies umfasste eine Umfrage und die Durchsicht verschiedener Studiengänge. Die Ergebnisse wurden in einem detaillierten Bericht zusammengefasst, der auch als Artikel veröffentlicht wurde. Obwohl diese Analyse zeitaufwändig war, konnten wir dank der gewonnenen Erkenntnisse Fortschritte erzielen.
Im vergangenen Jahr 2023 organisierten wir eine Konferenz, die sich mit kosmopolitischen Perspektiven in der Kommunikationswissenschaft befasste. Dabei wurden einige interessante Vorträge gehalten, von denen einige in Publikationen wie der deutschen Ausgabe des “Global Media Journal – German Edition” veröffentlicht werden.
Ein weiteres wichtiges Projekt ist die Erstellung eines Handbuchs zu der Frage, wie eine kosmopolitische Forschung aussehen könnte. An dem Werk arbeiten wir derzeit und es wird voraussichtlich Ende 2024 veröffentlicht. In diesem Handbuch werden verschiedene Themenbereiche wie Mediensysteme, Journalismus und Krisenkommunikation behandelt. Wir untersuchen die aktuellen Probleme in diesen Bereichen, die einer kosmopolitischen Perspektive im Wege stehen, und geben Hinweise auf Praktiken und Möglichkeiten, eine vertiefte Internationalisierung in die Forschung einzubringen. Unser Ziel ist es, Forscherinnen und Forschern in diesen Bereichen Anleitungen zur Integration theoretischer oder methodischer Ansätze der Internationalisierung in typischen Feldern der Kommunikationswissenschaft zu bieten.
Vielen Dank für das Interview.
Schlagwörter:"Kosmopolitische Kommunikation", DFG, DGPuK, Internationalisierung, Kommunikationswissenschaft