Medienselbstkontrolle im Wandel

11. Oktober 2010 • Qualität & Ethik • von

Brauchen wir einen Presserat für den Online­journalismus – und wenn ja, wie viele?

Der Journalismus erfindet sich im Internet gegenwärtig neu, doch neben unbestrittenen Chancen bringt die onlinebasierte Kommunikation auch viele Fallstricke mit sich. Häufig sind diese ethisch-moralischer Natur. Ein Beispiel: Im März berichtete das WAZ-Portal “DerWesten” über die Vergewaltigung eines elfjährigen Mädchens, das in der Wohnung seiner Eltern überfallen worden war. Dem handwerklich soliden Text war – wie fast allen Beiträgen des Internet-Portals – eine Webanwendung beigefügt. Mit Hilfe des so genannten “Geotaggings” konnten die Nutzer des Portals dabei helfen, in einem interaktiven Stadtplan den “Ort des Geschehens” herauszufinden. Im Kontext des geschilderten Falles sorgte diese prinzipiell spannende Interaktionsmöglichkeit verständlicherweise für Unmut. Auch der Deutsche Presserat wurde aktiv und diagnostizierte eine “eklatante Verletzung von Persönlichkeitsrechten” des betroffenen Mädchens. Er sprach eine öffentliche Rüge aus – die schärfste aller dem Presserat zur Verfügung stehenden Sanktionen.

Nicht immer gestalten sich die Verhältnisse für die Selbstregulierung im Bereich des Internetjournalismus so eindeutig. Nachdem der Deutsche Presserat seine Zuständigkeit am 1.1.2009 auf journalistisch-redaktionelle Beiträge im Internet ausgeweitet hatte, sah sich die Selbstkontrolleinrichtung einer regelrechten Flut von Beschwerden ausgeliefert. Allein 2009 gingen 1.269 Meldungen von vermeintlichen Verstößen gegen die journalistische Berufsethik in der Geschäftsstelle ein – ein bis dahin unerreichter Spitzenwert. Gleichzeitig blieb der Pressekodex, mit dessen Hilfe die Beschwerdekammern des Presserats über den Umgang mit journalistischen Verfehlungen richten, weitgehend unverändert. Eindeutige Hinweise auf die neuen professionsethischen Problemdimensionen, die die Entwicklung des Journalismus in einem digitalen Medienumfeld mit sich bringt, sucht man in den Richtlinien bislang jedenfalls vergeblich. Die Frage muss erlaubt sein: Ist die Beschwerdearbeit des Deutschen Presserats angemessen auf die Anforderungen einer Freiwilligen Selbstkon­trolle des Internetjournalismus vorbereitet?

Dass sich die Bedingungen der journalistischen Berufsethik unter dem Einfluss des Internets verändern – darauf gibt es in der wissenschaftlichen Literatur zahlreiche Hinweise. Vor allem Bernhard Debatin hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder darum bemüht, Konturen einer “Ethik des Onlinejournalismus” zu beschreiben. Er unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Konfliktfeldern, die zum Teil das Resultat grundlegender Eigenschaften der Internetkommunikation sind, zum Teil jedoch auch spezifische Merkmale des Netzjournalismus (vgl. Debatin 2004):

Ein basales Problem der Internetkommunikation wird häufig mit dem Catchword “digital divide” beschrieben. Es geht dabei vor allem um Probleme der informationellen Ungerechtigkeit, des ungleichen Zugangs zu Informationen im Internet. Doch auch die Auswahl, Verbreitung und Veränderung von nicht-journalistischen Informationen im Internet ist mit zahlreichen Konflikten behaftet. Schwierigkeiten verursachen etwa die potenzielle Anonymität von Internetnutzern, die Verbreitung ethisch fragwürdiger Inhalte (Stichwort: “hate speech”) oder die Tendenz zu einer kaum zu entflechtenden Vermischung von Realität und Virtualität.

Die spezifischen Medieneigenschaften des Internets bringen aber auch für den Onlinejournalismus typische Probleme mit sich. Dies beginnt bei der Informationsauswahl: Journalisten haben mit einer riesigen Datenflut zu kämpfen; sie sehen sich bei der Recherche im Netz häufig mit besonderen Fragen des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre konfrontiert. Auf der Produktionsebene herrscht ein dauernder Update-Bedarf, der zu permanentem Zeitdruck führt und damit Ungenauig­keiten forciert. Auf der Distributionsebene schließlich lässt sich eine zunehmende Auflösung der Trennung zwischen redaktionellem und Anzeigenteil beobachten. Zudem stellt sich das Problem der Flüchtigkeit des Onlinemediums – und damit der Instabilität der gespeicherten Information.

Neue Herausforderungen verursacht auch und vor allem das Social Web – und damit die zunehmende Bedeutung des Users. Jane Singer (2010) hat in diesem Kontext auf einen notwendigen Paradigmenwechsel der journalistischen Ethik hingewiesen. Veraltet sei das Prinzip der “Gatekeeper Ethics”, bei dem professionelle Normen dazu beitragen, die traditionelle Rolle des Journalisten als informationeller Schleusenwärter zu festigen. Stattdessen sei eine Umdeutung ethischer Prinzipien im Sinne von “Relationship Ethics” notwendig. Dabei rückt die Beziehung der Journalisten zu ihren Rezipienten in den Mittelpunkt. Journalistisches Handeln wird mehr als reziproker Prozess verstanden, was Auswirkungen auf den Umgang mit nutzergenerierten Inhalten hat.

In den Einrichtungen der Medienselbstregulierung konnten sich diese Einsichten bislang nicht manifestieren. Ari Heinonen (2010) zeigt in einer vergleichenden Analyse europäischer Ethik-Kodizes, dass deren inhaltliche Schwerpunkte in den vergangenen Jahren weitgehend konstant geblieben sind: Nach wie vor stehen Fragen des Persönlichkeitsschutzes, der Diskriminierung, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit der Darstellung oder Grenzen der Recherche im Mittelpunkt. Themen der journalistischen Online-Kommunikation bleiben in den untersuchten Regelwerken hingegen die Ausnahme. Dementsprechend fällt auch Heinonens Fazit aus: “it seems that journalistic ethics has not yet reached the internet era” (Heinonen 2010: 20).

Diese Schlussfolgerung lässt sich direkt auf das Beispiel des Deutschen Presserats und seinen Kodex übertragen. Eine Auswertung der Beschwerden des Jahres 2009 zeigt, dass sich zwar gut 42 Prozent der Eingaben gegen Verfehlungen im onlinejournalistischen Bereich richteten. Gleichzeitig blieben jedoch die inhaltlichen Schwerpunkte der Beschwerdearbeit weitgehend unverändert: Ähnlich wie in den Vorjahren bemühten die Beschwerdekammern des Presserats vor allem die Kodex-Ziffern 2 (Sorgfalt), 12 (Diskriminierungen) und 8 (Persönlichkeitsrechte), um die angezeigten Verfehlungen zu bewerten. Diese Statistik kann kaum verwundern: Wie sollte sich die Spruchpraxis des Presserats denn auch wandeln, wenn die zugrunde gelegten Regularien keinen Spielraum dafür lassen?

Dabei wären Veränderungen dringend geboten – das legt auch eine Detailanalyse der Beschwerden aus dem Vorjahr nahe. Unter den dokumentierten Fällen finden sich nämlich nicht wenige Beispiele, in denen spezifische Merkmale onlinejournalistischen Arbeitens in den Fokus rücken. Der Pressekodex bietet bei der Behandlung dieser Fälle in seiner derzeitigen Fassung wenig Hilfe.

Dies gilt etwa für den redaktionellen Umgang mit Nutzerkommentaren. Beim Presserat gelangte dieses Thema 2009 auf die Tagesordnung, als ein Beschwerdeführer ehrverletzende Äußerungen im Forum der Online-Ausgabe einer regional verbreiteten Boulevardzeitung anzeigte, das sich mit der Berichterstattung über ein Sexualdelikt befasste. Da der Pressekodex diesbezüglich keine Handlungsempfehlungen vorsieht, wertete die zuständige Beschwerdekammer die anstößige Kommentierung schließlich als Leserbrief und berief sich bei der Bewertung des Falles auf Richtlinie 2.6 (“Bei der Veröffentlichung von Leserbriefen sind die Publizistischen Grundsätze zu beachten”). In der Konsequenz erkannte sie einen Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht und sprach einen Hinweis aus. Obwohl die Sanktionierung im Ergebnis einleuchtet, wird doch deutlich, dass der Pressekodex in diesem Zusammenhang einer Ergänzung bedarf. Konkrete Entscheidungshilfen für den Umgang mit Nutzerkommentaren könnten dabei helfen, das journalistische Handeln in entsprechenden Situationen zu professionalisieren.

Ähnliches trifft auf die Bewertung von internetspezifischen Darstellungsformen wie Bildergalerien oder Webvideos zu, aber auch auf den Umgang mit Netzquellen in der Recherche. Zwar hält der Pressekodex grundlegende Empfehlungen bereit, die sich prinzipiell auf die Bedingungen onlinejournalistischer Kommunikation übertragen lassen. Die Operationalisierung dieser Empfehlungen im redaktionellen Alltag misslingt jedoch, wie weitere Fallbeispiele zeigen, in unschöner Regelmäßigkeit.

Will sich der Deutsche Presserat als Freiwillige Selbstkontrolle für den Internetjournalismus etablieren, täte er gut daran, die Ausgestaltung konkreter Verhaltensregeln für dieses Tätigkeitsfeld aktiv anzugehen.

Literatur:

  • Debatin, Bernhard (2004): Ethik des Onlinejournalismus – medien­ethische Kriterien und Perspektiven. In: Beck, Klaus/Schweiger, Wolfgang/Wirth, Werner (Hrsg.): Gute Seiten – schlechte Seiten. Qualität in der Onlinekommunikation. München, S. 80-99.
  • Heinonen, Ari (2010): Old ethics in new media? In: Ethical Space,
    7. Jg., H. 1, S. 18-21.
  • Singer, Jane B. (2010): Norms and the network. Journalistic ethics in a shared media space. In: Meyers, Christopher (Hrsg.): Journalism ethics. A philosophical approach. Oxford etc., S. 117-129.

Erstveröffentlichung: Journalistik Journal 2/2010

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