Dagestan: Der Einfluss von Telegram-Kanälen auf die Verbreitung von Desinformation

8. Februar 2024 • Aktuelle Beiträge, Internationales • von

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In der südrussischen Republik Dagestan kam es nach dem Beginn des israelischen Militäreinsatzes im Gazastreifen zu Ausschreitungen. Dieser Artikel analysiert, was Informationsflüsse in sozialen Medien mit dem Angriff auf israelische Staatsbürger an einem Flughafen zu tun haben könnten.

Am 28. Oktober versammelten sich in der Stadt Chasavjurt, Dagestan, vor dem Hotel „Flamingo“ über 100 Demonstranten mit der Forderung, Besucher aus Israel auszuweisen. Internationale Schlagzeilen machte jedoch einen Tag später, am 29. Oktober, ein beispielloses Ereignis: Um sieben Uhr abends versammelten sich etwa tausend Menschen zu einer nicht genehmigten Kundgebung am Flughafen „Uytaš“ in Machatschkala. Unbefugte drangen in Massen in den Flughafen ein und begaben sich auf das Rollfeld, wo sie begannen, die Pässe derjenigen zu überprüfen, die mit dem Flug von Tel Aviv nach Machatschkala angekommen waren. Trotz der Bemühungen der Sicherheitskräfte, den Konflikt zu beenden, entstand erheblicher Schaden an der Flughafeninfrastruktur, der auf Hunderte Millionen Rubel (mehrere Millionen Euro) geschätzt wird. 20 Menschen wurden verletzt, darunter 9 Polizisten, aber kein israelischer Staatsbürger.

Das Volk der Taten

Dagestan gilt als eine multinationale Republik innerhalb der Russischen Föderation. Obwohl der vorherrschende Glaube hier der Islam ist, gibt es mehr als 30 ethnische Gruppen mit verschiedensten religiösen Zugehörigkeiten, darunter mehr als 34.000 Bergjuden,

Während der Etablierung der sowjetischen Herrschaft in Dagestan begannen Repressionen und Verfolgungen aufgrund religiöser Merkmale. Zu dieser Zeit entschieden sich die Bergjuden, sich als “Taten” zu registrieren, aufgrund der sprachlichen Ähnlichkeit des tatischen Dialekts mit dem iranischen Zweig der indoeuropäischen Familie. Auf diese Weise entgingen sie den Verfolgungen während des Zweiten Weltkrieges. Im Jahr 1938 wurde die tatische Sprache erstmals in die Liste der 10 offiziellen Sprachen von Dagestan aufgenommen.

Später setzte die Entwicklung der nationalen Presse und kulturell-nationalen Manifestationen dieser Gesellschaft ein. In Dagestan wurde die tatische Zeitschrift “Vatan Sovetimu” („Unsere sowjetische Heimat“) veröffentlicht. Heute zählt die Gemeinschaft der Bergjuden in Derbent mehr als 2000 Menschen, und die Synagoge “Kele Numaz” sowie ein Gemeindezentrum sind aktiv.

Hintergründe der Ausschreitungen: Die Rolle von Telegram

Experten wie die Islamwissenschaftler Yana Amelina und Rinat Pateev sowie der Politologe Evgeny Minchenko bringen das Ereignis am Flughafen mit dem Einfluss von Telegram-Kanälen und Online-Messengern in Verbindung. Der Ausbruch von Emotionen wurde anscheinend durch folgende Gründe verursacht:

Die Gefühle der Muslime wurden durch Solidarität und Glaubensbekundungen angesichts erschütternder Bilder der zivilen Bevölkerung aus dem Gazastreifen hervorgerufen. Die Übertragung der Ereignisse erfolgte über verschiedene regionale Kanäle an das gesamte nordkaukasische Publikum mittels Story-Reposts auf Instagram sowie in privaten Chats und Gruppen verschiedener Messenger wie WhatsApp und Telegram.

Eine maßgebliche Informationsquelle war der Telegram-Kanal “Utro Dagestana” (übersetzt “Morgen von Dagestan”), der seit der teilweisen Mobilisierung im September 2022 mehrfach falsche Informationen verbreitet hatte. Im August 2023 berichtete der Kanal fälschlicherweise über die erzwungene Einführung des digitalen Rubels für Russen, wobei betont wurde, dass eine Rückkonvertierung des Geldes nicht möglich sei.  Dies unterstreicht die Tatsache, dass der Kanal für die Verbreitung von Fake News genutzt wurde. Zusätzlich wurden auf dem Kanal regelmäßig antisemitische Beiträge und Verschwörungstheorien veröffentlicht.

Zwanzig Minuten vor der Ankunft des Fluges Tel Aviv-Makhachkala veröffentlichte der Kanal „Utro Dagestana“ eine Anleitung zum Protest: „Wir bilden eine Menschenmenge und blockieren den Ausgang!“, instruierten die Administratoren des Kanals. „Wir werden den Flughafen blockieren und sie nicht herauslassen.“

Telegramkanäle regulieren?

In der Vergangenheit betonte Pavel Durov, der Eigentümer von Telegram (früherer Besitzer und Entwickler von vk.com), mehrfach auf seiner Vkontakte-Seite die konsequente Politik der Nichtoffenlegung von Benutzerinformationen. Er lehnte die Forderungen der Behörden ab, „Entschlüsselungsschlüssel“ bereitzustellen, um den Geheimdiensten das Lesen der Benutzerkorrespondenz und die Bekämpfung von Terrorismus zu ermöglichen. Dabei unterstrich er die Unvereinbarkeit mit der russischen Verfassung, welche das Recht auf Briefgeheimnis sicherstellt.

Dennoch sperrte Pavel Durov den Kanal mit der Ankündigung, eine solche Politik für alle Kanäle anzuwenden, die Hass aufgrund religiöser und nationaler Merkmale schüren. Trotz der Sperrung existieren weiterhin eine Reihe ähnlicher Kanäle mit religiöser Thematik. Zum Beispiel ein regionaler Kanal „Multinational“, der antisemitische Beiträge veröffentlicht, oder „Abdullah Shamil“, von dem Materialien des Kanals „Utro Dagestana“ geteilt werden. Aufrufe zu Massenunruhen werden auch auf den Kanälen „KAIF Dagestan“ und „Hier Dagestan“ aktiv verbreitet. Auf dem Kanal „Avito Dagestan“, der dem Verkauf von Waren und Dienstleistungen gewidmet ist, wurde dazu aufgerufen, Unterkünfte nicht an Bürger Israels zu vermieten. Hier ist ein regelrechter Trend zu beobachten: Inhalte, die gegen Juden gerichtet sind, sind populär geworden, was zu mehr Aufmerksamkeit für entsprechende anonyme Telegram-Kanäle und Blogger geführt hat.

Der Zuwachs an Telegram-Kanälen und der Wettbewerb unter ihren Administratoren kann mit dem Einfluss auf die Leser in Verbindung gebracht werden. Die Themen reichen von politischer Agitation, insbesondere während des Wahlkampfs, bis hin zu Auswirkungen auf den Markt. Dazu gehören Empfehlungen zum Kauf von Wertpapieren sowie mögliche finanzielle Entscheidungen von Investoren. Einige dieser Kanäle betreiben sogar unbehelligt Blogs mit Werbung für Drogenläden und Glücksspielanbieter. Schon seit 2022 als ein mächtiges Beeinflussungsinstrument betrachtet, gewinnt Telegram an Popularität aufgrund der Möglichkeit, Meinungen frei und anonym auszudrücken, ohne Verantwortung zu tragen. Im Kontext der Studie „Dynamik der Wahlintelligenz in Russland (2016-2019)“, die vom Komitee für politische Technologien der RASO (Russische Vereinigung für Öffentlichkeitsarbeit) durchgeführt wurde, wurde Telegram von Experten unter den landesweiten Angeboten als zweit-einflussreichster Kanal eingestuft. Das Vertrauensniveau in die bereitgestellten Informationen wird durch die kontinuierliche Beteiligung beauftragter Personen und speziell entwickelter Bots in lebhaften Diskussionen gestärkt.

Walerii Fadejew, der Wladimir Putin in Fragen der Menschenrechte und Zivilgesellschaft berät, schlug eine rechtliche Überprüfung aller Telegram-Kanäle vor, die den Bestimmungen für journalistische Medien ähnelt. Die Zeitung Vedomosti zitiert seine Äußerung, dass Telegram-Kanäle „in Inhalt und Tätigkeit in nichts von traditionellen Massenmedien abweichen“. Seiner Meinung nach arbeiten jedoch traditionelle Medien innerhalb der Gesetze, und für sie gibt es ein Warnsystem seitens Roskomnadzor (föderaler Dienst für die Überwachung im Bereich Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation), während Telegram-Kanäle außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätig sind. Eine Untersuchung auf dem Medienportal habr.com zeigt allerdings, dass Medien oft Telegram zitieren, jedoch nicht als offizielle Quelle.

Politische Verflechtungen

Der Kreml, einschließlich Präsident Wladimir Putin und des dagestanischen Präsidenten Sergej Melikow, behauptet, dass die Unruhen durch von außen inszenierte Provokationen mithilfe sozialer Medien inspiriert wurden. Die Herausforderung besteht jedoch darin, die wahren Verantwortlichen zu definieren, indem man die Eigentümer und Administratoren der Kanäle identifiziert. Daher scheint der Vorschlag von Fadejew zur Regulierung in technischer und praktischer Hinsicht schwer umsetzbar zu sein.

In mehreren öffentlichen Quellen wurde Abakar Abakarov, ein Einwohner von Machatschkala, als Administrator des Telegram-Kanals „Utro Dagestana“ bezeichnet. Die Zeitung Iswestija spricht ihm redaktionelle Kontrolle über den Kanal zu. Das russische Innenministerium hat ihn zur Fahndung ausgeschrieben. Sein Name wird mit islamistischen Radikalen und der Finanzierung durch ausländische Organisationen in Verbindung gebracht, insbesondere mit Ilja Ponomarjow. Der ehemalige Duma-Abgeordnete, der seit 2016 in der Ukraine ansässig ist und den genannten Kanal finanziert, leugnet jegliche Verbindung zu dessen redaktioneller Politik. Nach den Ereignissen am Flughafen betonte er, dass er jedenfalls keine inhaltliche Kontrolle über den Kanal habe. Des Weiteren erklärte er, dass viele Autoren, die für die verschiedenen Kanäle in verschiedenen Regionen verantwortlich sind, eigenständig darüber entscheiden, welche Inhalte sie veröffentlichen möchten.

Übergriffe auf (vermeintliche) Juden fanden nicht nur in Dagestan statt, sondern auch in anderen russischen Teilrepubliken. In Karatschai-Tscherkessien wurde bei einer Kundgebung gefordert, israelische Bürger nicht einreisen zu lassen. Unbekannte setzten auch Autoreifen auf der Baustelle eines jüdischen Kulturzentrums in Brand. Die Behörden von Inguschetien warnten rechtzeitig vor möglichen Provokationen „nach dem dagestanischen Szenario“ am Flughafen der Hauptstadt Magas und verstärkten die Sicherheitsmaßnahmen. Am 30. Oktober erklärte der Präsident von Tschetschenien, Ramzan Kadyrow, es sei dank der Massenmedien gelungen, antisemitische Aktionen in Tschetschenien zu verhindern, und dass die Polizei und die Truppen der Nationalgarde in Bereitschaft versetzt wurden.

In Dagestan rief der Mufti der Teilrepublik, Ahmed Abdulayev, zu Toleranz auf und verurteilte die Anstiftung zu Hass und Unruhen.

 

Komplexer sozialer Kontext

Obwohl Dagestan wie Tschetschenien mit ernsthaften Korruptionsproblemen konfrontiert ist, bleibt Dagestan eine polyzentrische Region. Dies macht die Aufrechterhaltung des interethnischen Gleichgewichts in der Republik zu einer äußerst problematischen Aufgabe. Die Schattenwirtschaft in Dagestan und die Veruntreuungen aus dem föderalen Haushalt haben in der Vergangenheit zu erheblichen sozialen Verwerfungen geführt. Aufgrund von Korruptionsvorwürfen kam es zu Neuwahlen des dagestanischen Präsidenten sowie nachfolgenden Anti-Korruptionsmaßnahmen durch den russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Die Bewertung des Korruptionsniveaus bleibt jedoch fraglich.

Im Jahr 2022 lebten 14 Prozent der Bevölkerung in Dagestan unterhalb der Armutsgrenze, mit einem durchschnittlichen Gehalt von 24.000 Rubel (246 Euro) in einigen Bezirken. Trotz wirtschaftlicher Herausforderungen bleibt die Geburtenrate in Dagestan hoch. Die begrenzten Möglichkeiten könnten die Jugend dazu motivieren, alternative Wege zum Erfolg und zur sozialen Anerkennung zu suchen. In einem Kontext wie Dagestan, wo komplexe sozioökonomische Bedingungen die Jugend vor Herausforderungen stellen, kann der Sport einen begrenzten Pfad zur persönlichen Entfaltung und zum Erwerb von Status bieten. Eine alternative Option ist religiöse Bildung, die als äußerst zugänglich betrachtet wird und Glauben, Schutz und konfessionelle Verbundenheit bietet.

Jedoch schaffen Faktoren wie politische Instabilität, Konflikte und der Krieg in der Ukraine ein Klima der Unsicherheit und können Menschen dazu veranlassen, Schutz in radikalen Ideologien zu suchen.

Darüber hinaus gibt es in Dagestan eine untypische Kultur von Straßenprotesten, bei der jeder Dissens aktiv in Demonstrationen ausgedrückt wird. Dies zeigt sich am Beispiel der ersten Mobilisierung, bei der es zu einer offenen Konfrontation zwischen unzufriedenen Müttern und Sicherheitskräften kam.

 

 

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