Medienentwicklung neu denken – Ein Gespräch mit Dr. Michel Leroy

30. Juni 2025 • Aktuelle Beiträge, Internationales • von

Jüngste Forschungsergebnisse stellen die beruhigenden Annahmen hinter den weltweiten Bemühungen zur Unterstützung des Journalismus in Entwicklungsländern infrage. Angesichts des sich verschärfenden globalen Wettbewerbs um Einfluss auf die Mediensysteme wirft Dr. Michel Leroy in seinem neuen Buch „The Sustainability Imperative in Media Development“ schwierige, aber aktuelle Fragen auf. Auf der Grundlage von zwei Jahrzehnten Projektevaluationen weltweit und Feldforschung in Subsahara-Afrika deckt Leroy die blinden Flecken der internationalen Medienhilfe auf, insbesondere die übermäßige Abhängigkeit vom Konzept der „Nachhaltigkeit“. EJO sprach mit ihm über seine Erkenntnisse und darüber, warum die „Hilfe“ für Medien möglicherweise nicht so einfach – oder so hilfreich – ist, wie viele glauben.

Herr Dr. Leroy, Ihr Buch hat einen recht interessanten Untertitel: „Eine kritische Analyse eines eigennützigen Mythos“. Auf welchen Mythos beziehen Sie sich?

Michel Leroy: Der Mythos ist die Vorstellung, dass Maßnahmen zur Medienentwicklung – also Projekte, die hauptsächlich von westlichen Ländern finanziert werden, um freien, unabhängigen Journalismus im Globalen Süden zu fördern – von Natur aus nützlich sind. Jahrelang sind wir davon ausgegangen, dass Investitionen der Geber in die Ausbildung von Journalist:innen, die Bereitstellung von Ausrüstung und den Aufbau von Nachrichtenagenturen zwangsläufig in irgendeiner Weise zum gesamten Medienökosystem beitragen würden. Die Realität ist jedoch viel komplexer, und Medienwachstum bedeutet nicht immer Medienentwicklung. Indem sie Nachhaltigkeit als Maßstab nehmen – also ein sehr dehnbares Kriterium, das jeder anders interpretiert –, mobilisieren alle Akteure der Branche ein bequemes Konzept, das breit genug ist, um irgendwie zu allen zu passen, aber voller impliziter Annahmen ist. Als Forscher habe ich daher versucht, diese Werte zu dekonstruieren, um zu sehen, was sie bedeuten.

Was hat Ihr Interesse daran geweckt, diese Überzeugung in Frage zu stellen?

Bevor ich Forscher wurde, habe ich jahrelang an Medienentwicklungsprojekten in Afrika und Asien gearbeitet. Oberflächlich betrachtet geht es bei diesen Programmen um die Förderung von Demokratie, Pressefreiheit und Rechenschaftspflicht. Als ich jedoch Jahre später in diese Länder zurückkehrte, stellte ich fest, dass dieselben Radiosender oder Zeitungen trotz glänzender Evaluierungsberichte oft immer noch zu kämpfen hatten oder sogar geschlossen waren. Diese Diskrepanz zwischen Narrativ und Realität hat mich nachdenklich gemacht: Messen wir die richtigen Dinge oder erzählen wir uns einfach Geschichten, die wir hören wollen? Welche Auswirkungen kann das auf das gesamte System haben, wenn wir uns der Realität verschließen und letztlich nichts aus unseren Erfahrungen lernen? Und wer ist letztendlich dafür verantwortlich, wenn Geberländer wie China, Russland, die Türkei oder die Golfstaaten sich einschleichen, dieselben pauschalen Konzepte verwenden, aber ganz andere Ziele verfolgen und dabei oft mit beeindruckender Effizienz vorgehen?

Warum muss dieses Konzept der Nachhaltigkeit heute überdacht werden?

Nachhaltigkeit ist seit langem ein beliebtes Schlagwort in der Entwicklungszusammenarbeit, auch in der Medienhilfe. Meine Forschung zeigt jedoch, dass es sich dabei eher um ein narratives Mittel als um einen verlässlichen Indikator für die Wirkung handelt. Gerade jetzt – in einer sich wandelnden geopolitischen Landschaft, in der die traditionelle liberale demokratische Ordnung durch Populismus in Frage gestellt wird – stößt das alte Modell der Medienhilfe sowohl an praktische als auch an philosophische Grenzen. Dennoch verlassen sich viele westliche Geber und NGOs weiterhin auf dieselben Nachhaltigkeitsrahmen, die sie seit den 1990er Jahren verwenden, als hätte sich das globale Umfeld nicht verändert. Schlimmer noch: In einer Zeit, in der große Teile der westlichen Hilfe unter dem Vorwand, sie habe keine Wirkung, abrupt gekürzt werden, hinterfragt niemand, wie diese Wirkung tatsächlich aussieht.

Ihre Feldforschung konzentriert sich auf zwei afrikanische Länder, Uganda und die Demokratische Republik Kongo. Warum gerade diese beiden?

Uganda und die DR Kongo sind sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen aufschlussreiche Fälle. Beide Länder verfügen über eine lebendige lokale Medienlandschaft, stehen jedoch vor großen finanziellen und politischen Herausforderungen. Durch den Vergleich konnte ich erkennen, dass die Vorstellungen von „Nachhaltigkeit“ in der Medienentwicklung stärker von den Erwartungen der Geber geprägt sind als von den tatsächlichen Bedürfnissen der lokalen Medien. Ich habe festgestellt, dass das, was an einem Ort funktioniert, selten an einem anderen Ort funktioniert – es gibt also keine Einheitslösung. Vor allem ist mir aufgefallen, dass vor Ort innovative Ideen entstehen, die dazu beitragen, hartnäckige Stereotypen abzubauen, insbesondere die Vorstellung, dass bestimmte Gebiete aufgrund unzureichender Werbeeinnahmen zum Scheitern verurteilt sind.

Was haben Sie hinsichtlich der internationalen Debatte über Nachhaltigkeit darüber herausgefunden, wie dieser Begriff verwendet wird?

Ich habe eine auffällige Ambivalenz festgestellt. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist in den Berichten der Geber zu einer Art ritualisiertem Vokabular geworden, zu einer Art Zauberformel, mit der verantwortungsbewusstes Handeln signalisiert wird – aber selten durch harte, dauerhafte Ergebnisse vor Ort untermauert wird. Wenn der Finanzierungszyklus endet, verschwinden viele sogenannte „nachhaltige“ Projekte still und leise.

Das ist nicht nur ein afrikanisches Problem, sondern ein systemisches. Wie ich anhand der Analyse von 289 Evaluierungsberichten aus 20 Jahren zeige, verschleiert der Diskurs oft die finanziellen und politischen Abhängigkeiten zwischen Gebern, Projektdurchführenden, Evaluatoren und lokalen Partnern. Es handelt sich eher um einen geschlossenen Kreislauf der Selbstverstärkung als um einen offenen Prozess der kritischen Bewertung. Letztendlich führt dies vor allem zu dem, was einer der von mir befragten Schlüsselinformanten als „institutionellen Überlebenswille“ bezeichnet: Jeder hat seine eigene Selbsterhaltung im Blick. Es besteht ein starker Anreiz, Erfolge zu melden, denn ein positiver Bericht bedeutet, dass das nächste Projekt finanziert wird. Meine Forschung legt nahe, dass dieser Kreislauf mehr Loyalität gegenüber dem Finanzierungsprozess als gegenüber dem Ziel der Förderung des Mediensystems schaffen kann. Dennoch sind die kritischsten Bewertungen – beispielsweise der Maßnahmen im Balkan, in Afghanistan oder im Irak – diejenigen, die den größten Einfluss haben. Der derzeitige Rahmen misst eher, ob ein Projekt ohne Geld von Gebern weiterlaufen kann, als ob es langfristig tatsächlich den Fluss zuverlässiger Informationen verbessert. Ich glaube, der Fokus sollte sich auf die sozialen Auswirkungen verlagern, nicht nur auf die finanzielle Tragfähigkeit.

Wie trägt Ihre Arbeit angesichts der weltweiten Bestrebungen zur „Entwestlichung“ der Medienforschung zu dieser Debatte bei?

Ein Großteil der Forschungs- und Politikliteratur stützt sich nach wie vor auf Modelle und Messgrößen, die in westlichen Vorstellungen von der Rolle der Medien verwurzelt sind: Watchdog, vierte Gewalt … In der Praxis lassen sich diese Modelle jedoch oft nur schwer übertragen. Die Medienökosysteme in Ländern wie Uganda oder der Demokratischen Republik Kongo funktionieren unter völlig anderen Bedingungen. Dazu gehören politische Einmischung, fragmentierte Werbemärkte und manchmal wirtschaftliche Unsicherheit.

Mein Buch lädt Wissenschaftler und Praktiker gleichermaßen dazu ein, zu überdenken, ob unsere theoretischen Rahmenbedingungen angemessen sind oder ob sie lediglich eine intellektuelle Komfortzone reproduzieren. Bei der „De-Westernization“ des Fachgebiets geht es nicht nur darum, Referenzen auszutauschen, sondern auch darum, den lokalen Erfahrungen zuzuhören, was „Wirkung“ oder sogar „Zukunft“ tatsächlich bedeuten.

Was bedeutet das für internationale Geldgeber und die breitere Forschungsgemeinschaft?

Für Geber bedeutet dies, sich einer unangenehmen Frage zu stellen: Finanzieren wir Medien, weil wir unabhängigen Journalismus fördern wollen, oder weil wir unseren eigenen Einfluss erhalten wollen? Medienentwicklung ist mit der Geopolitik der Soft Power verflochten, insbesondere in fragilen oder umkämpften Staaten. Es ist dringend notwendig, diese Spannung anzuerkennen, anstatt sie hinter Nachhaltigkeitsrhetorik zu verstecken. Sind die Verantwortlichen in der Lage, selbstständig zu denken, wie es im Kontext der Entwicklungshilfe der Fall sein sollte?

Für Forschende geht es um methodische Demut. Es gibt ein wachsendes Interesse an kritischen Evaluierungsstudien und Diskursanalysen – insbesondere seit der plötzlichen Streichung von Finanzmitteln unter der neuen amerikanischen Regierung. Feldbezogene Daten müssen die vorherrschenden Nord-Süd-Modelle dessen, was „Empowerment“ oder „Erfolg“ ausmacht, ergänzen – oder sogar in Frage stellen.

Einige Ihrer Analysen verbinden Nachhaltigkeit auch mit der Idee von „Zukunftsvorstellungen“. Können Sie das näher erläutern?

Nachhaltigkeit ist nicht nur ein technischer Maßstab, sondern Ausdruck davon, wie Geldgeber und Praktiker sich die Zukunft vorstellen. Diese Vorstellung ist jedoch nicht neutral. Für westliche Geber bedeutet Nachhaltigkeit oft: „Wir stellen die Finanzierung ein, und ihr werdet autark.“ In fragilen Volkswirtschaften ist diese Erwartung jedoch nicht nur unrealistisch, sondern dient oft als Rechtfertigung für kurzfristiges Denken und den Ausstieg aus Projekten.

Im Gegensatz dazu sind Überlebensstrategien für lokale Akteure in der Regel anpassungsfähig, relational und von Vulnerabilität geprägt, nicht von Marktlogik. In diesem Sinne geht es bei Nachhaltigkeit weniger um finanzielle Tragfähigkeit als vielmehr um die Sicherung der Kontinuität angesichts von Umbrüchen. Diese Dissonanz wird sowohl in der Praxis als auch in der Forschung oft übersehen.

Geopolitisch gesehen beobachten wir auch eine Abkehr vom westlichen liberalen Modell der Medienentwicklung. Wie ordnen Sie diesen Trend in Ihrem Buch ein?

Die traditionelle Geberlogik – professionelle Medien als Grundlage demokratischer Gesellschaften (die Missionsära) – steht heute vor systemischen Herausforderungen. Autoritäre Staaten haben gelernt, die Sprache der Medienhilfe zu übernehmen und gleichzeitig ihre Kontrolle zu festigen. Nicht-westliche Mächte bieten lokalen Eliten attraktive Alternativen: Finanzhilfen ohne die gleichen Governance-Bedingungen.

Dieser Wandel ist nicht marginal. Er stellt die Grundlage der Medienentwicklungsindustrie infrage. Wenn das Ziel darin bestand, robuste, unabhängige Ökosysteme zu schaffen, stellt sich die Frage: Warum sehen wir mehr Abhängigkeit und nicht weniger? Und wessen Interessen dient das? Das sind nicht nur technische oder managementbezogene Fragen – sie sind zutiefst politisch.

Wo sehen Sie schließlich die Zukunft der Medienentwicklungsforschung?

Ich hoffe, dass diese Arbeit Forschende dazu ermutigt, Evaluierungsberichte nicht als neutrale Feedback-Schleifen zu betrachten, sondern als politische Dokumente – als Teil eines Diskurses, der das Feld prägt und manchmal auch verzerrt. Kritische, interdisziplinäre Forschung ist mehr denn je gefragt, insbesondere jetzt, wo die Legitimität von „Entwicklung“ als Praxis weltweit hinterfragt wird.

Es ist auch wichtig, nicht in die Falle zu tappen, lokale Resilienz zu romantisieren oder die Agenda der Geber zu verteufeln. Die Realität ist komplex, und diese Komplexität ist kein Fehler – sie ist die Bedingung der Welt, in der wir leben. Unsere Rolle als Forschende und Journalist:innen ist es, diese Komplexität anzunehmen und nicht zu vereinfachen.

 

 

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