Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern mehr Aufmerksamkeit für den Globalen Süden

15. September 2025 • Internationales, Qualität & Ethik, Top • von

Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie mehr als 150 Organisationen haben einen Appell unterzeichnet, der mehr mediale Aufmerksamkeit für die Länder des Globalen Südens fordert.

In zahlreichen sogenannten Leitmedien entfallen etwa nur 10 Prozent der Beiträge auf den Globalen Süden, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben. Das ist das Fazit zahlreicher (Langzeit-)Untersuchungen, in denen u.a. über 50.000 Ausgaben der reichweitenstärksten deutschsprachigen Nachrichtensendung, der Tagesschau, ausgewertet wurden. Die Analyse ca. 40 weiterer reichweitenstarker Medien (darunter auch die österreichische Zeit im Bild (ZIB) 1 und die Schweizer Tagesschau) in den sogenannten DACH-Ländern (Deutschland, Österreich und die Schweiz) bestätigen die Ergebnisse. In den meisten Printmedien sind es sogar nur um die 5 Prozent der Beitragsseiten, die sich mit den Staaten des Globalen Südens beschäftigen.

Geografische Verteilung der Beiträge in Medien

 

Geografische Verteilung der Beiträge im Jahr 2022 in den reichweitenstärksten Nachrichtensendungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Fundamentale Ereignisse im Globalen Süden mit dramatischen menschlichen, aber auch soziopolitischen Auswirkungen, werden in der Berichterstattung weitgehend ausgeblendet oder sogar vollständig übergangen. Dies gilt insbesondere für die Länder Lateinamerikas, Subsahara-Afrikas und Südasiens.

Dramatische Beispiele der medialen Vernachlässigung

Als prägnante Beispiele können die große Hungersnot von 2011, in der mehr als eine Viertel Million Menschen, zur Hälfte Kinder unter fünf Jahren, am Horn von Afrika (Somalia) starben, der Bürgerkrieg im Jemen, den die Vereinten Nationen jahrelang als „weltweit schlimmste humanitäre Krise“ bezeichneten, sowie der Bürgerkrieg in der nordäthiopischen Region Tigray angeführt werden, der mit circa 600.000 Toten als „tödlichster Krieg des 21. Jahrhunderts“ gilt. Aktuell hat der Bürgerkrieg im Sudan zur „weltweit größten Hungerkrise“ (so das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen) geführt, mit etwa 25 Millionen Menschen, die von akutem Hunger betroffen sind.

Über diese und weitere dramatische Ereignisse und Entwicklungen im Globalen Süden wurde und wird in deutschsprachigen Medien kaum oder gar nicht berichtet. Sie sind hierzulande im kollektiven Bewusstsein und Gedächtnis praktisch nicht präsent.

In der deutschen Tagesschau wurde in der ersten Jahreshälfte 2022 dem Sport mehr Sendezeit eingeräumt als allen Ländern des Globalen Südens zusammen. In der österreichischen ZIB 1 wurde 2022 umfangreicher über die britische Königsfamilie berichtet als über den Globalen Hunger und in der Schweizer Tagesschau war die Berichterstattung über die Ohrfeige, die der Schauspieler Will Smith auf der Oscarverleihung Chris Rock gab, umfangreicher als über die Bürgerkriege im Jemen und Tigray zusammengerechnet.

Geografische Verteilung der Nachrichtenbeiträge im Jahr 2022 in der deutschen Tagesschau-Hauptausgabe

Geografische Verteilung der Nachrichtenbeiträge in den Jahren 2007-2024 in der deutschen Tagesschau-Hauptausgabe

Die Nichtbeachtung des Globalen Südens kann fatale humanitäre, aber auch geopolitische Auswirkungen haben. Die Länder des Globalen Südens sind von weitreichenden Entwicklungen mit größten Veränderungspotentialen geprägt und werden in Zukunft auf der Welt eine noch größere Bedeutung einnehmen – dies gilt nicht nur demografisch, sondern auch politisch-ökonomisch. Die Menschen des Globalen Nordens können es sich nicht leisten, über Ereignisse und Entwicklungen in Ländern, die 85 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, uninformiert zu bleiben. Aus ethischer, historischer, sozioökonomischer und politischer Perspektive ist es essentiell, medial umfangreicher über den Globalen Süden zu berichten.

Positive Beispiele medialer Berichterstattung

Dass grundsätzlich auch eine andere Form von Berichterstattung möglich ist, verdeutlichen die positiven Beispiele ARTE Journal im Bereich der Fernsehnachrichten und die taz in der Gruppe der Printmedien. Beide Formate widmen dem Globalen Süden etwa drei Mal so viel Sendezeit bzw. Beitragsseiten wie vergleichbare Medien ihrer Art. Die Berichterstattung beider Medien ist von einer geografisch weiterblickenden Perspektive gekennzeichnet und gibt dem Globalen Süden genügend Raum, um diesen nicht auf die sogenannten K-Themen (Krisen, Kriege, Katastrophen, Krankheiten, Korruption) zu reduzieren, sondern sie auch mit Positivbeispielen in ihrer Mehrdimensionalität zu erfassen. Diese Art von Berichterstattung ermöglicht es eher, den Globalen Süden in seiner Multikulturalität und -ethnizität abzubilden.

Die positiven Beispiele taz und ARTE Journal sind somit auch eine Kontrast- bzw. Negativfolie zu anderen Medien, in deren Bericht-schema der Globale Süden allenfalls einen marginalen Stellenwert einnimmt. Allerdings erreicht das ARTE Journal z.B. aber nur einen Bruchteil der Zuschauerzahlen großer Nachrichtenformate wie der Tagesschau.

Einfluss und Verantwortung der Medien

Um eine größere Aufmerksamkeit zu erzeugen, sind mehr Sendezeit bzw. Beitragsseiten für den Globalen Süden notwendig. Informationsmedien wie Nachrichtensendungen, Reportagen und politischen Diskussionsendungen fällt eine wichtige Rolle bei der privaten und öffentlichen Meinungsbildung zu. Sie bilden nicht nur ab, worüber öffentlich diskutiert und nachgedacht wird, sondern bestimmen dies mit und haben damit entscheidenden Einfluss darauf, welche Probleme politisch behandelt und möglicherweise auch gelöst werden können.

Insbesondere vor dem Hintergrund der globalen Reduktion der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und Hungerbekämpfung (bei gleichzeitigem massiven Anstieg der Rüstungsausgaben), wäre eine intensive öffentliche Diskussion um diese Entwicklungen von allergrößter Bedeutung – sowohl aus humanitärer wie auch aus geopolitischer Perspektive. Medien könnten die Plattform einer solchen breit gestreuten gesellschaftlichen Debatte sein, die auch zu weitreichenden politischen Entscheidungen führen könnte. Umso wichtiger ist es, dass das Nachrichtengeschehen primär nicht ausschließlich nach seinem geographischen Standort, sondern auch nach den menschlichen und geopolitisch relevanten Dimensionen beurteilt wird.

Soziopolitisches Interesse und Empathievermögen sollten nicht an Ländergrenzen halt machen. Um Interesse für ein Thema zu generieren, ist allerdings eine umfangreiche und insbesondere konsequente Berichterstattung erforderlich, denn Interesse an einem Thema setzt eine vorher in irgendeiner Form erfolgte Beschäftigung mit diesem voraus. Interesse und der Wunsch, sich mit einem Thema näher zu beschäftigen, kann nur entstehen, wenn berichtet wird und Themen und geografische Räume nicht ignoriert werden.

Unterstützung des Appells durch eine breite wissenschaftliche Koalition und durch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen

Vor diesem Hintergrund haben über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – darunter etwa 750 Professorinnen und Professoren – einen Appell unterzeichnet, der mehr mediale Aufmerksamkeit für den Globalen Süden fordert.

Die Unterstützerinnen und Unterstützer bilden unterschiedliche Fachrichtungen ab wie beispielsweise Agrarwissenschaft, Anthropologie, Ethik, Geschichte, Geografie, Gesundheitswesen, Klimawissenschaft, Kommunikations- und Medienwissenschaft, Kulturwissenschaften, Philosophie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie, Sprachwissenschaften, Theologie und Wirtschaftswissenschaften.

Zu den Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Papiers gehören u.a. die Kulturwissenschaftlerin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, Aleida Assmann, der Philosoph Thomas Pogge, die Historikerin und Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Barbara Stollberg-Rilinger, der frühere Direktor des Weltethos-Instituts in Tübingen, Ulrich Hemel, der Altbischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich und ehemaliger Vorsitzender des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ), Herwig Sturm, der Sozialmediziner und Kandidat bei der Wahl des deutschen Bundespräsidenten 2022, Gerhard Trabert, der ehemalige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, frühere Deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen sowie ehemalige Diplomatische Berater von Angela Merkel, Christoph Heusgen, der ehemalige Auslandschef der Deutschen Presse-Agentur (dpa), Heinz-Rudolf Othmerding, der ehemalige Präsident des Schweizer Presserats Roger Blum, sowie der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar.

Zu den unterstützenden Organisationen zählen beispielsweise Academics Stand Against Poverty (ASAP), die Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie, der Verband für Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (VGDH), Adveniat, MISEREOR, die Evangelische Landeskirche Hessen-Nassau (EKHN), die Evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), das Global South Studies Center (GSSC) der Universität zu Köln, humedica e.V., die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA), jesuitenweltweit Deutschland, die Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung (KOO), Menschen für Menschen. Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe, sowie das World Future Council. Hinzu kommt der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO), der als Dachorganisation ca. 140 entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen (NROs) vertritt.

Das Papier und die gesamten Unterstützendenlisten können hier eingesehen werden. Es besteht auch weiterhin die Möglichkeit, den Appell zu unterzeichnen und/oder diesen Beitrag zu teilen (s.o.).

 

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