Den Globalen Süden kaum im Bild

8. August 2023 • Aktuelle Beiträge, Forschung aus 1. Hand, Internationales, Qualität & Ethik • von

Weniger als 10 Prozent der Sendezeit von Österreichs wichtigster Nachrichtensendung Zeit im Bild (ZIB) 1 und der größten österreichischen Nachrichtenseite ORF.at entfallen auf den Globalen Süden, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt.

Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Länder (bzw. politischen Entitäten) im Jahr 2022 in der ZIB 1 erwähnt wurden.

Die Zeit im Bild (ZIB) gilt als wichtigstes Fernsehnachrichtenformat Österreichs. Die täglich um 19.30 Uhr gleichzeitig auf ORF 1 und ORF 2 ausgestrahlte 20-minütige Hauptausgabe (ZIB 1) erreicht regelmäßig Spitzenquoten. Die Ausgabe der ZIB 1 vom 17. Januar 2022 zum Beispiel war mit ca. 1,9 Mio. Zuschauern und einem Marktanteil von etwa 58 Prozent die zweitmeistgesehene Sendung des gesamten Jahres in Österreich.[1] Die Nachrichtenseite von ORF.at ist ebenso marktführend. Im Jahr 2022 erreichte ORF.at im Schnitt ca. 5,35 Mio. Unique User und war das am stärksten frequentierte Digitalangebot Österreichs. Die ZIB 1 und ORF.at sind in den Bereichen Fernsehen und Internet somit die wichtigsten Nachrichtenquellen für die meisten Österreicherinnen und Österreicher. Wichtig ist also die Frage, worüber in der ZIB 1 und auf ORF.at berichtet wurde – und vor allem auch, worüber nicht.

Für die vorliegende Untersuchung wurden 364 Sendungen, also etwa 120 Stunden der ZIB 1 im Jahr 2022 ausgewertet sowie fast 3.000 Beiträge auf der Nachrichtenseite von ORF.at, die im Juni 2022 erschienen.[2]

Während die Nachrichten der Jahre 2020 und 2021 von der Covid-Pandemie beherrscht wurden, dominierten im Jahr 2022 der Ukraine-Krieg und seine Auswirkungen (insbesondere im Energiesektor) das Nachrichtengeschehen. Fast ein Viertel der Sendezeit der ZIB 1 entfiel auf den Ukrainekrieg und fast weitere 10 Prozent auf die hierdurch bedingte problematische Energieversorgung. Zusammen mit der Pandemie bestimmten diese drei Themenbereiche 2022 etwa 44 Prozent der Sendezeit der ZIB 1 (im Spitzenmonat März waren es sogar über 80 Prozent; Abb. 1).

Abb. 1 Verteilung der Sendezeit nach Themen in der ZIB 1 im Jahr 2022. Vergeblich sucht man auf dieser Grafik nach den Datenkurven für die Bürgerkriegsregionen Tigray und Jemen, da die Werte so gering sind, dass sie nicht angezeigt werden können.

Zweifelsohne war und ist der Ukraine-Krieg ein Ereignis mit höchst weitreichenden menschlichen, sozialen, politischen und ökonomischen Auswirkungen auf vielen Gebieten. Weitgehend außer Acht gelassen wurde allerdings, dass sich im Jahr 2022 im Globalen Süden ebenfalls eine Reihe humanitärer Krisen und Katastrophen ereignete, die von den meisten Medien nur äußerst randständig berücksichtigt wurden.

Vernachlässigte Krisen und Katastrophen

Hierzu gehören etwa die humanitäre Krise infolge der eskalierenden Gewalt im Karibikstaat Haiti, der laut UN soziopolitisch am Abgrund steht, die politische Krise und der landesweite Notstand in Peru, der Militärputsch in Burkina Faso sowie die „Jahrhundertflut“ in Pakistan, in deren Folge etwa 1.700 Personen starben und ca. 33 Millionen Menschen obdachlos wurden. Aber auch die Erklärung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass die Zahl der Malariatoten im Jahr 2021 bei 619.000 (und damit etwa 50 Prozent höher als im Vorjahr) lag, fand nur geringes mediales Echo. Wenig beachtet wurden außerdem die Bürgerkriege in Tigray (Äthiopien) und im Jemen (s.u.).

Die ZIB 1 und ORF.at nahmen diese Ereignisse nur peripher wahr. Ein Blick auf die Verteilung der Beiträge zeigt, dass die geografische Orientierung der Berichterstattung eindeutig auf dem Globalen Norden lag und die Länder des Globalen Südens in den Nachrichten nur eine sehr geringe Rolle spielten (siehe Titelbild). Noch dramatischer sieht es bei den Topthemen aus: Kaum ein Land in Lateinamerika, Subsahara-Afrika sowie Süd- und Südostasien schaffte es in der ZIB 1 in die wichtigste Meldung des Tages.

Kaum Interesse an der „weltweit schlimmsten humanitären Krise“

Während Russland und die Ukraine im Jahr 2022 in über 1.000 Beiträgen Erwähnung fanden, wurden die Kriegsländer Äthiopien und Jemen lediglich in 13 bzw. 8 Berichten erwähnt. In der Tat wurden dem Bürgerkrieg in Tigray, wo Schätzungen zufolge seit 2020 bis zu 600.000 Menschen starben, in der ZIB 1 insgesamt lediglich 40 Sekunden gewidmet. Mit dem Bürgerkrieg im Jemen, der seit 2014 laut UN-Angaben infolge der militärischen Auseinandersetzungen und ihrer indirekten Auswirkungen rund 380.000 Menschenleben forderte und den die Vereinten Nationen als „weltweit schlimmste humanitäre Krise“ einstufen, beschäftigten sich 185 Sekunden (zum Vergleich: auf den Krieg in der Ukraine entfielen 93.890 Sekunden; Abb. 2).

Abb. 2 Sekunden Sendezeit in der ZIB 1 für ausgewählte Themen im Jahr 2022.

Kaum Interesse am „größten lösbaren Problem der Welt“

Zu den medial am stärksten vernachlässigten Katastrophen gehört der Globale Hunger, der vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) als „das größte lösbare Problem der Welt“ bezeichnet wird, da sowohl die Ressourcen als auch die technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen und vergleichsweise nur geringe finanzielle Mittel notwendig wären, um dieses Problem zu lösen. Laut dem im Jahr 2022 vorgelegten Welternährungsbericht der Vereinten Nationen stieg die Zahl der Hungernden im Vorjahr auf etwa 828 Millionen Menschen – ein dramatischer Zuwachs gegenüber der Vorpandemiezeit um ca. 150 Millionen Menschen.

In der ZIB 1 wurde im Jahr 2022 aber zum Beispiel umfangreicher über die Queen bzw. die britischen „Royals“ berichtet als über den Globalen Hunger. Auf ORF.at erschienen im Untersuchungszeitraum sogar mehr Sportberichte als Beiträge über den gesamten Globalen Süden.

Dabei drohte eine weitere Zuspitzung der globalen Hungersituation, da der Export des Getreides aus der Ukraine über das Schwarze Meer aufgrund des Krieges, zumindest zeitweise, nicht mehr sichergestellt war und die Weltmarktpreise dementsprechend reagierten. In der ZIB 1 und auf ORF.at wurden zwar Berichte zur Hungersituation veröffentlicht, aber etwa Dreiviertel von ihnen beschäftigten sich fast ausschließlich mit den politischen Dimensionen für die am Getreideabkommen beteiligten Staaten (also vornehmlich mit der Ukraine, Russland sowie der vermittelnden Türkei) anstatt mit der Situation in den vom Hunger akut betroffenen Gebieten vor Ort. Die Beiträge zum Getreideabkommen thematisierten also eher eurozentristisch die politischen Aspekte des Ukraine-Krieges als die Auswirkungen für die vom Getreide abhängigen Zielländer im Globalen Süden.

Die mediale Marginalisierung des Globalen Südens hat Routine

Nigeria, der mit etwa 230 Mio. Einwohnern bevölkerungsreichste Staat Afrikas, wurde im Jahr 2022 in lediglich 3 Beiträgen der ZIB 1 erwähnt (zum Vergleich: Dänemark, das knapp 6 Mio. Einwohner hat, wurde in 32 Berichten genannt). Kein Einzelfall und keine Ausnahme. Lediglich etwa 9 Prozent der Sendezeit der ZIB 1 entfiel auf den Globalen Süden, wo etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt (Abb. 3).

Abb. 3 Geografische Verteilung der Sendezeit in der ZIB 1 im Jahr 2022.

Damit reihen sich die ZIB 1 und auch ORF.at in die Gruppe der Medien ein, die nur etwa 10 Prozent oder weniger ihrer Sendezeit für Nachrichten aus dem Globalen Süden verwenden (Abb. 4).

Abb. 4 Anteil des Globalen Südens, wo etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt, an den Nachrichten in der ZIB 1, auf ORF.at und zum Vergleich in der deutschen Tagesschau (Angaben in Prozent; bei ORF.at nur Juni 2022 in repräsentativer Auswahl).

Insgesamt spiegeln die Daten die Ergebnisse einer unter dem Titel Vergessene Welten und blinde Flecken veröffentlichten Langzeituntersuchung wider, in der u.a. mittlerweile fast 6.000 Sendungen der deutschen Tagesschau ausgewertet wurden und die zeigen, dass der Globale Süden in den Nachrichten konsequent vernachlässigt wird. Mit dem Berichtschema der Tagesschau verglichen wird deutlich, dass diejenigen der ZIB 1 und von ORF.at nahezu deckungsgleich sind.

Ein Berichtschema, das den Globalen Süden weitgehend ausblendet

Dieses Muster der Berichterstattung ist für Ereignisse, die sich im Globalen Süden ereignen, deutlich weniger empfänglich als für Vorkommnisse, die im Globalen Norden stattfinden. Die als unverhältnismäßig zu bezeichnende überdimensionale Präferenz für Nachrichten aus dem Globalen Norden droht zu einer medialen Blindheit auch gegenüber schwersten humanitären Krisen und Katastrophen zu führen, die sich im Globalen Süden ereignen.

Es gilt den Nachrichtenwert eines Ereignisses primär nicht nach dem Ort, wo es sich ereignet hat, sondern nach seiner menschlichen Dimension zu bemessen. Es gilt die Länder des Globalen Südens aus dem medialen Erinnerungsschatten zu holen und ihnen das Nachrichteninteresse bzw. die öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, die ihnen zusteht.

Die vollständige Ausgangsstudie „Vergessene Welten und blinde Flecken“ über die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens und verschiedene Ergänzungsanalysen können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter www.ivr-heidelberg.de. Auf der Seite finden sich auch verschiedene Videozusammenfassungen, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Poster-Wanderausstellung.

Eine Videozusammenfassung dieses Beitrags kann hier angesehen werden.

[1] Eine höhere Einschaltquote erzielte nur das Fußball-WM-Finale Argentinien – Frankreich (Elfmeterschießen) am 18. Dezember 2022, das von 2,1 Mio. Zuschauern verfolgt wurde.

[2] Aufgrund der hohen Datenmenge wurde von ORF.at nur ein Monat ausgewertet und als Untersuchungszeitraum der Juni ausgewählt, da dieser Monat sich für die Berichterstattung der ZIB 1 als repräsentativ erwiesen hatte. Es wurden jeden Tag im Monat Juni morgens, mittags und abends (um etwa 8.00, 13.00 und 19.00 Uhr) die Beiträge auf der Nachrichtenseite von ORF.at überprüft. Sich wiederholende Berichte wurden nur einmal gewertet. Die Beiträge wurden durch das Angebot der sog. Wayback Machine des Internet Archive eingesehen: www.archive.org Für den freundlichen Hinweis danke ich Peter Schiessl.

Alle Abbildungen von Ladislaus Ludescher.

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