Wenig Aufmerksamkeit für „das größte lösbare Problem der Welt“

7. März 2022 • Aktuelle Beiträge, Internationales, Qualität & Ethik • von

Bis zu 811 Millionen Menschen auf der Welt hungern. Trotzdem wird in den Medien hierüber nur am Rand Notiz genommen. Dabei wäre es vergleichsweise leicht, dieses globale Problem zu lösen.

Laut dem aktuellen Welternährungsbericht der Vereinten Nationen ist die Zahl der chronisch Hungernden im Jahr 2020 weltweit auf 720 bis 811 Millionen Menschen gestiegen. Mit ca. 418 Millionen Menschen gibt es die meisten chronisch Hungernden in Asien, gefolgt von Afrika mit 282 Millionen Menschen und Lateinamerika und der Karibik mit 60 Millionen (Abb. 1). Damit hungert etwa jeder zehnte Mensch auf der Welt. Über zwei Milliarden Menschen leiden unter Mangelernährung. Alle dreizehn Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger, in einem Jahr also fast 2,5 Mio. Kinder.

Abb. 1: Weltweite Unterernährung im Jahr 2020. Quelle: FAO, IFAD, UNICEF, WFP, WHO. Anmerkung: Sollte Ihnen eine Grafik nicht lesbar angezeigt werden, bitte öffnen Sie diese zur Ansicht separat in einem neuen Browserfenster.

 

Nachdem die Zahl der Hungernden viele Jahre lang gesunken ist, steigt sie seit etwa fünf Jahren wieder an. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen machte bereits 2017 darauf aufmerksam, dass jährlich mehr Menschen „[a]n den Folgen des Hungers sterben […] als an AIDS, Malaria und Tuberkulose zusammen.“

Die Zahlen sind erschreckend, werden in der Öffentlichkeit aber nur am Rande wahrgenommen und kaum diskutiert. So griffen z.B. in der wichtigsten deutschsprachigen Nachrichtensendung, der „Tagesschau“ um 20 Uhr, im gesamten Jahr 2020 das Thema Hunger lediglich 9 der insgesamt über 3.000 ausgestrahlten Beiträge (ohne Sport und Wetter) auf. Zum Vergleich: Die Corona-Pandemie war im selben Zeitraum in fast 1.300 Beiträgen Thema. Auch im Jahr 2021 sah es nicht besser aus: Hier waren es bei fast 3.200 gesendeten Beiträgen (ohne Sport und Wetter) ebenfalls nur 9 Berichte. Die Beiträge zum Thema Hunger sind häufig nicht nur sehr kurz, sondern werden in der Regel auch lediglich in der zweiten Sendungshälfte ausgestrahlt.

Dabei hat sich die Situation weiter zugespitzt. Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie haben die Zahl der Hungernden weiter ansteigen lassen. So machte die Welthungerhilfe im Jahr 2020 deutlich, dass „[s]owohl das Virus selbst als auch die damit einhergehenden Beschränkungen […] zum Hungertod von mehr als 10.000 Kindern pro Monat führen“ könnten und wies darauf hin, dass diese „stille Tragödie“ immer mehr in den Hintergrund rücke. Die Warnung von UNICEF, dass durch die Pandemie zusätzlich 6,7 Millionen Kinder bis zum Ende des Jahres unter akuter Mangelernährung leiden könnten, wurde in der „Tagesschau“ zwar aufgegriffen, der entsprechende Beitrag in der Sendung vom 28. Juli dauerte aber lediglich nur 25 Sekunden. Am 13. Juli warnten die Vereinten Nationen in ihrem Welternährungsbericht, dass die Zahl der Hungernden infolge der Pandemie um 130 Mio. Menschen steigen könnte. Entgegen der Dramatik der Lage berichtete die „Tagesschau“ hierüber lediglich in einem 35 Sekunden langen Beitrag.

Bezeichnend für die mediale Marginalisierung des globalen Hungers ist der Bericht über die Auszeichnung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen mit dem Friedensnobelpreis am 9. Oktober 2020. Dieser wurde als letzter von insgesamt acht Beiträgen in der „Tagesschau“ ausgestrahlt.

Es handelt sich hierbei um keinen Ausnahmefall, die Vernachlässigung dieses Themas hat Routine. Denn ebenso verhielt es sich bereits im Jahr 2011 und in den Monaten davor und danach, als eine Hungersnot am Horn von Afrika in Somalia fast 260.000 Menschenleben forderte, unter denen die Hälfte Kinder unter fünf Jahren waren. In der „Tagesschau“ wurde hierüber nur am Rande berichtet. Im kollektiven Gedächtnis des Westens ist dieses dramatische Ereignis nicht existent. Nahezu jedem ist die Kernreaktorkatastrophe von Fukushima bekannt, die sich ebenfalls 2011 ereignete, aber kaum jemand verbindet mit diesem Jahr auch den Hungertod von mehr als einer Viertelmillion Menschen. Noch nie ist der globale Hunger in den politischen Talkshows wie „Anne Will“, „Hart aber Fair“, „Maybrit Illner“ oder „Maischberger“ zum Diskussionsthema gemacht worden, obwohl jeden Tag Millionen von Menschen hiervon betroffen sind. Fast scheint es, dass der Hungertod von Tausenden Menschen, der sich tagtäglich ereignet, für alltäglich genommen wird und daher seinen Status als „berichtenswerte“ Nachricht verloren hat.

Hierbei handelt es sich um ein allgemeines Problem der Berichterstattung, denn dass beispielsweise in der „Tagesschau“ die Sendezeit für Sportergebnisse diejenige für den Globalen Süden ohne die sogenannte MENA (Middle East & North Africa)-Region übertrifft, gibt zu denken (Abb. 2).

Abb. 2: Themenanteile in der „Tagesschau“ im Jahr 2020.

 

Wie eine Studie mit dem Titel „Vergessene Welten und blinde Flecken“ an den Universitäten Frankfurt a. M., Heidelberg und Mannheim zeigt, spielt der Globale Süden (früher auch „Entwicklungsländer“ oder „Dritte Welt“ genannt) in den sogenannten Leitmedien kontinuierlich nur eine sehr untergeordnete Rolle. Die fortgesetzte Langzeituntersuchung, in der mittlerweile unter anderem ca. 5.500 Sendungen der „Tagesschau“ aus den Jahren 2007 bis 2021 ausgewertet wurden, gelangt zu dem Schluss, dass der Globale Süden in der Berichterstattung massiv vernachlässigt wird (Abb. 3/4).

Abb. 3: Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Staaten in der „Tagesschau“(-Hauptsendung) im Zeitraum von 2007 bis 2021 erwähnt wurden.

 

Abb. 4: Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Staaten unter den Topthemen der „Tagesschau“(-Hauptsendung) im Zeitraum von 2007 bis 2021 waren.

 

Auch die jüngsten Ergebnisse für das Jahr 2021 zeigen, dass der Globale Süden in der „Tagesschau“ verglichen mit anderen Themen kaum eine Rolle spielt (Abb. 5/6).

Abb. 5: Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Staaten in der „Tagesschau“(-Hauptsendung) im Jahr 2021 erwähnt wurden.

 

Abb. 6: Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Staaten unter den Topthemen der „Tagesschau“(-Hauptsendung) im Jahr 2021 waren.

 

In der Pandemiezeit ist der Globale Süden in den Berichten sogar noch weiter in den Hintergrund gerückt – und das obwohl Länder wie Brasilien und Indien schwer betroffen waren bzw. sind. In den Jahren 2020 und 2021 hat die „Tagesschau“ in ca. 40 % ihrer Sendezeit (ohne Sport und Wetter) über die Corona-Pandemie berichtet (Abb. 7).

Abb. 7: Über welche Regionen wurde in der „Tagesschau“ im Verlauf der Jahre 2020 und 2021 im Kontext der Covid-19-Pandemie berichtet?

 

Abb. 8: Über welche Regionen wurde in der „Tagesschau“ im Jahr 2021 im Kontext der Covid-19-Pandemie berichtet?

 

Dabei entfiel aber nur ein Bruchteil der Sendezeit, in der über die Pandemie berichtet wurde, auf die Länder des Globalen Südens – und hier vor allem auf China. Im Jahr 2021 z.B. beschäftigte sich die „Tagesschau“ in mehr als drei Vierteln ihrer Sendezeit zur Pandemie mit der Situation in Deutschland und in etwa 18 % mit dem zum Globalen Norden gehörenden Ausland, insbesondere den europäischen Staaten und den USA. In lediglich etwa 4 % der Sendezeit über die Pandemie widmeten sich die Beiträge der Lage in den Ländern des Globalen Südens (Abb. 8).

Deutlich zeigt sich die seit Jahren konsequente geografisch sehr unausgewogene Verteilung der Berichterstattung auch in der Bevölkerungs-Berichte-Relation (Abb. 9). Während z.B. Dänemark, das ca. 6 Millionen Einwohner hat, im Jahr 2021 in 30 Berichten der „Tagesschau“ erwähnt wurde, waren es im Fall von Indonesien (mit ca. 273 Millionen Menschen der viertbevölkerungsreichste Staat der Erde) lediglich 9 Berichte.

Abb. 9: Verteilung der Berichterstattung der „Tagesschau“ über verschiedene Länder relativ zu deren Bevölkerungszahl im Jahr 2021.

 

Die mediale Marginalisierung kann allerdings noch gravierender werden. Die Demokratische Republik Kongo (mit einer Bevölkerung von ca. 92 Millionen Menschen) kam im Jahr 2021 in der Hauptsendung der „Tagesschau“ sogar kein einziges Mal vor. Ebenso verhielt es sich mit Malaysia (ca. 32 Millionen Einwohner). Von den insgesamt 54 Staaten, die in der wichtigsten deutschsprachigen Nachrichtensendung im Jahr 2021 nicht erwähnt wurden, gehören 52 zum Globalen Süden.

Obwohl es 2020 und 2021 nicht an negativen Ereignissen in Bezug auf die globale Hungersituation mangelte, schaffte es das Thema Hunger nicht in die Topmeldungen des Tages. In der „Tagesschau“ bestimmten im Jahr 2021 z.B. die Corona-Pandemie und die Bundestagwahl bzw. ihre Folgen an etwa zwei von drei Tagen die Topschlagzeilen (die sogenannten Aufmacher; Abb. 10).

Die aktuelle Hungersituation ist zweifelsfrei besorgniserregend, aber besonders aufwühlend erscheint die Lage, weil es sich hierbei um ein durchaus lösbares Problem handelt. In der Tat bezeichnete das World Food Programme Hunger als „das größte lösbare Problem der Welt“. So gehen Schätzungen davon aus, dass die aktuellen Rekordernten ausreichen würden, um bis zu 14 Milliarden Menschen zu ernähren.

Abb. 10: Aufmacher-Themen der „Tagesschau“ im Jahr 2021.

 

Zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) der Vereinten Nationen gehört die Beendigung von Hunger auf der Welt bis zum Jahr 2030. Die Berechnungen, wie viel Geld notwendig wäre, um den Hunger auf der Welt zu besiegen, divergieren und richten sich auch nach den jeweiligen konkreten Zielsetzungen. Laut dem International Institute for Sustainable Development (IISD) werden global jährlich 12 Milliarden Dollar zur Hungerbekämpfung ausgegeben. Zusätzliche 14 Milliarden Dollar pro Jahr könnten, so einer im Jahr 2020 vorgestellten Berechnung des kanadischen Instituts in Kooperation mit dem International Food Policy Research Institute (IFPRI) und der Cornell University zufolge, bis 2030 ca. 500 Millionen Menschen aus Hunger und Fehlernährung befreien. Der ehemalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller äußerte sich am 14. Oktober 2021 in der „Augsburger Allgemeinen“ ebenfalls zu diesem Thema. Müller, der seit Dezember 2021 Generaldirektor der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO) ist und Hunger wiederholt als Mord bezeichnet hat, machte deutlich, dass Hunger ein Skandal sei, da sowohl das Wissen als auch die Technologie zur Verfügung stünden, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren. Er bezifferte die notwendige Summe zur Beendigung des Hungers bis zum Jahr 2030 auf 40 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr. Die Summe mag hoch erscheinen, verblasst allerdings neben den von dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI auf 1.984 Milliarden Dollar geschätzten globalen Militärausgaben im Jahr 2020 (Abb. 11). SIPRI wies darauf hin, dass die Ausgaben trotz Pandemie gegenüber dem Vorjahr um 64 Milliarden Dollar gestiegen sind und einen Höchststand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1988 markieren.

Abb. 11: Weltweite Ausgaben für Militär, Entwicklungszusammenarbeit und Hungerbekämpfung im Jahr 2020 im Vergleich (in Mrd. US-Dollar). Quelle: SIPRI, OECD, IISD.

 

Die Medien könnten durch eine konsequente Berichterstattung das öffentliche Bewusstsein für die Problematik schärfen und sie in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses bringen. Wie lange könnte sich die Politik der Lösung des „größten lösbaren Problems der Welt“ verweigern, wenn der globale Hunger zu einem Topthema in den Medien und damit auch in der Öffentlichkeit gemacht werden würde? Die entscheidende Frage lautet daher nicht nur, wie viel Geld uns eine Welt ohne Hunger wert ist, sondern auch wie viel mediale Zeit und Aufmerksamkeit.

Die vollständige Studie „Vergessene Welten und blinde Flecken“ über die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens, eine Videozusammenfassung, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Poster-Wanderausstellung können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden auf: www.ivr-heidelberg.de.

 

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