Für die „Digital Natives“ ist der Umgang mit neuen Medien selbstverständlich, für psychisch und körperlich beeinträchtigte Menschen leider nicht.
Im August 2010 startete im Rahmen des Lehr- und Forschungsseminars Medienpädagogik der TU Dortmund das Projekt „Anschluss statt Ausschluss“ unter der Leitung von Prof. Dr. Ingo Bosse vom Lehrstuhl motorische Entwicklung und frühe Hilfen der Technischen Universität Dortmund. Ein Jahr später zieht er eine erste Bilanz.
Mit welcher Zielvorgabe haben Sie das Projekt „Anschluss statt Ausschluss“ gestartet?
Letztendlich ging es uns um die Förderung von Medienkompetenz für Menschen mit hohem Hilfebedarf – Menschen, die aufgrund ihrer Biografie eine geringe Medienkompetenz haben. Die Teilnehmer waren in einem Alter zwischen 20 und Mitte 30, also in einem Alter, in dem man heutzutage eigentlich eine relativ hohe Medienkompetenz hat. Neben der Vermittlung von Medienkompetenz für Menschen mit hohem Hilfebedarf ging es uns auch um die Förderung von Medienbildungskompetenz von unseren Studierenden des Lehramts für sonderpädagogische Förderung Rehabilitation und Pädagogik bei Körperbehinderung – sie sollten erfahren, wie man einer bestimmten Zielgruppe Medienbildung vermittelt und hatten die Aufgabe, Computerkurse für diese spezifische Zielgruppe zu gestalten. An diesen Kursen in Dortmunder Wohnheimen haben Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen teilgenommen.
Da treffen ja die unterschiedlichsten Erkrankungen und Lebensgeschichten aufeinander. Wie konnten Sie die unterschiedlichen Bildungsstufen in Ihren Computerkursen miteinander vereinbaren?
Das bedeutete für uns natürlich eine große Herausforderung. Wir hatten auch Teilnehmer, die Probleme hatten mit dem Lesen und dem Schreiben, aber auch Menschen mit einer hohen Intelligenz, die aufgrund anderer psychischer Erkrankungen in diesem Wohnheim wohnen und kognitiv durchaus in der Lage sind, anspruchsvoll am Computer zu arbeiten. Weil ihnen allerdings im Verlauf ihrer Biografie relativ wenig zugetraut wurde, konnten sie diese Dinge nie erlernen. Das tolle an diesem Projekt war, bei den Teilnehmern eine große Begeisterung für das Thema zu sehen und relativ schnell Fortschritte erzielen zu können. Alle Teilnehmer hatten natürlich unterschiedliche Erfahrungen. Einige kannten sich schon ganz gut aus, insofern mussten wir auch darauf achten, bei welchen Vorerfahrungen wir bei den einzelnen Teilnehmern anknüpfen konnten. Für einige war es das erste Mal, dass ihnen überhaupt zugetraut wurde, mit Computern zu arbeiten. Für sie war es eine ganz neue Erfahrung, sich ernst genommen zu fühlen und zu merken: Ich kann genau die gleichen Medien bedienen wie die anderen und werde nicht darauf reduziert, dass etwas kaputt gehen könnte oder nicht funktionieren könnte.
Wer hat die Kurse geleitet?
Den Pilotkurs im Wohnheim in Dortmund-Eving habe ich persönlich durchgeführt. Das haben wir auf die drei weiteren Kurse von den Studierenden des Lehrstuhls in den weiteren Wohnheimen übertragen. Wir haben nach einem bestimmten Konzept gearbeitet das sich „Inklusive Medienarbeit“ nennt. Das basiert auf der „Methode der leicht zurückweisbaren Angebote“. Das heißt es gibt einen Experten, der die Inhalte vermittelt – in diesem Fall war ich das – und es gibt immer einen Lernenden und einen Assistenten, die sich auf Augenhöhe begegnen. Wir haben mit relativ leichten Lernübungen angefangen. In den ersten Sitzungen ging es zum Beispiel um die einfache Handhabung der Maus, um auch auf feinmotorische Schwierigkeiten einzugehen. Einige der Bewohner haben mit dem Programm Paint komplett schwarze Bilder gemalt, das war nun mal deren persönlicher Geschmack.
Sind Menschen mit Behinderung denn unbedingt auf Menschen ohne Behinderung angewiesen, um einen Zugang zu den Medien zu bekommen?
Diese Frage finde ich sehr wichtig. Ich kann sie relativ knapp beantworten: Nein. Trotzdem sage ich noch mehr dazu. Auch bei Menschen mit Behinderung gibt es manche, die können gut alleine mit Medien umgehen, andere wiederum benötigen Unterstützung. Das eigentliche Problem ist hierbei jedoch: Meistens wird ihnen der Umgang mit den Medien nicht zugetraut oder man meint aus irgendeinem Grund, sie abschotten oder behüten zu müssen.
Und wie kann man dem entgegen treten?
Ein Anspruch, den ich persönlich habe – allerdings auch bei Menschen ohne Behinderung – ist, die kritische Mediennutzung zu fördern. Wenn man ohnehin schon eine psychische Erkrankung oder eine andere Lernbeeinträchtigung hat, ist das natürlich schwieriger und man muss es anschaulicher und handlungsorientierter vermitteln. Die Medien bedienen – können viele alleine, man muss es ihnen nur zutrauen. Der Unterschied zwischen digitaler Realität und dem wirklichen Leben muss dem Nutzer bewusst werden. Bei Menschen mit Behinderung ist der kritische Blick häufig schwächer ausgeprägt. So hatte sich ein Bewohner, der zwar bereits Erfahrungen im Umgang mit Computern hatte, einmal im Internet mit einem Mädchen verabredet und war hinterher sehr enttäuscht, dass sie in Wirklichkeit ganz anders aussah.
Ist die Darstellung von Menschen mit Behinderung in den Medien ebenfalls ein großes Thema für Sie?
Auch Menschen mit Behinderung geht es in den Medien um gute Unterhaltung und kompetente Information. Natürlich darf man auch über das Thema Behinderung lachen, und das darf sogar auch unterhaltend sein. Mir geht es jedoch darum, einen besonderen Blick dafür zu entwickeln. Gott sei Die Darstellung von Menschen mit Behinderung ist in den Medien in den letzten 20 Jahren deutlich besser geworden. Medien können immer nur gesellschaftliche Realitäten darstellen. Dadurch, dass das Thema der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen auch gesellschaftlich immer mehr verankert ist und diskutiert wird, ist auch die Mediendarstellung eine andere geworden. Wenn man sich jedoch länger damit auseinandersetzt, entdeckt man, dass sich bestimmte Klischees und Stereotype, die sich medienhistorisch entwickelt haben, tatsächlich immer noch halten.
Können Medien tatsächlich bilden?
In der klassischen Aufteilung gibt es zum einen die Vermittlung von Medienkompetenz. Die Arbeit mit Medien lässt sich aufteilen in Lernen mit Medien, Medienbildung und Medienerziehung, also der kritischen Auseinandersetzung mit Medien. Es geht aber nicht nur um klassische Mediendidaktik; Medien sind mittlerweile ein Bildungsbereich wie Theater oder das bildnerische Gestalten. Ich sehe die Medien mittlerweile auch als klassische Kulturwerkzeug. Dazu gehört auch der kreative Ausdruck mit Medien. Dass das bei Menschen mit Behinderung zum Teil anders aussieht ist klar, aber gerade das ist spannend. Sie haben oft einen anderen Blick und ein anderes ästhetisches Empfinden. Dort würde ich auch den Bereich der Medienbildung am stärksten verankern, also im kulturellen Selbstausdruck mit Medien. Da kommen oft überraschende Einsichten und Dinge, auf die man selbst mit seinem vorgefertigten Blick nie gekommen wäre. Zwar sind bei einigen Menschen mit Behinderung die kognitiven Möglichkeiten begrenzter, aber das heißt nicht, dass bei der Auseinandersetzung und der Arbeit mit Medien keine spannenden kreativen Dinge entstehen können. In unserem Anfangskurs mit Paint sind überraschend tolle Bilder entstanden. Wir sollten uns diesbezüglich grundsätzlich eine Offenheit bewahren und akzeptieren, dass auch das eine Umgangsweise mit Medien ist.
Gibt es zurzeit genügend gleichartige Projekte für Menschen mit Behinderung?
In diesem Jahr sehe ich eine große Aufmerksamkeit für das Thema. Im März gab es einen großen medienpolitischen Kongress in Berlin „Keine Bildung ohne Medien“. Es gab zum ersten Mal eine „Arbeitsgemeinschaft Medienbildung“ für Menschen mit Behinderung und eine Veröffentlichung dazu. In den Forderungen ist es also ganz deutlich mit aufgenommen worden, mehr in diesem Bereich und auch im Vorhinein in der Lehrerbildung zu tun. Das Thema Partizipation tauchte am Wochenende vom 18. bis 20. November 2011 das erste mal im GMK-Forum Kommunikationskultur in Nürnberg auf. Am 30. November veranstaltet die Medienberatung NRW eine Tagung zum Thema „All inclusive“, wo nicht nur das Thema Medienbildung für Menschen mit Behinderung, sondern auch andere marginalisierte Gruppen angesprochen werden. Auch wir werden im nächsten März eine Tagung dazu veranstalten (Anschluss statt Ausschluss). Zumindest auf der Ebene der Institution und Wissenschaftsebene ist das Thema inzwischen präsenter. Was fehlt, sind zielgruppenspezifische Konzepte dafür.
Also wird viel darüber geredet, aber wenig gehandelt?
Behindertenverbände und die Sonderpädagogik haben die Medienpädagogik neu entdeckt. Und das im Rahmen der Inklusion, die ja momentan breiter diskutiert wird. Ich erhoffe mir zumindest, dass durch die Signale auf dieser Ebene auch mehr Projekte initialisiert werden. Die außerschulische Medienpädagogik ist da schon ein bisschen weiter, mit dem Projekt Medienkompetent teilhaben! gibt es erstmals eine umfangreiche Fortbildung zur inklusiven Medienarbeit, die von der Landesarbeitsgemeinschaft Lokale Medienarbeit NRW initiiert worden ist. Das ist das erste Mal, dass so etwas überhaupt konkret im Gesamten umgesetzt wird. Ansonsten gibt es immer nur Einzelprojekte.
Was bedeutet Integration auf medialer Ebene betrachtet?
Menschen mit Behinderung sind ein integraler Bestandteil medialer Darstellung. Aber sie können auch im Medienbereich beruflich mitwirken. Da gibt es nach wie vor große Barrieren, auch im Journalismus. Ich kenne einige körperlich behinderte Journalisten, die verzweifelt nach einer Anstellung im journalistischen Bereich suchen. Als Rollstuhlfahrer ist es nun mal nach wie vor schwierig, als Journalist barrierefrei arbeiten zu können. Da tauchen dann viele Fragen auf: Wie kann man die Außentermine wahrnehmen und O-Töne sammeln? Integration trifft also auch auf das Arbeitsfeld für Menschen mit Behinderung zu, und es betrifft nicht nur die Journalistik. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung ist nach wie vor deutlich höher als die von Menschen ohne Behinderung – und das wiederum betrifft auch den Medienbereich.
Schlagwörter:Anschluss statt Ausschluss, Ingo Bosse, Lehrstuhl motorische Entwicklung und frühe Hilfen der Technischen Universität Dortmund, Medienkompetenz