Die Journalisten in arabischen Staaten werden kontrolliert, und dennoch hält man sie für glaubwürdig. Die Erkenntnisse einer großen Umfrage erstaunen.
Westliche Beobachter haben vermutlich die Rolle der sozialen Netzwerke im “arabischen Frühling” überbewertet. Facebook, Twitter, Whatsapp und Instagram breiten sich allerdings rapide im Mittleren Osten aus und krempeln auch dort die Medienlandschaften um. Das ergibt eine vergleichende Studie, welche die Mediennutzung in sechs arabischen Ländern untersucht und zugleich erfasst, wie die über 6000 Befragten die Pressefreiheit und die Glaubwürdigkeit der Medien wahrnehmen. Gemäss dem Report “sind die sozialen Netzwerke nahezu zum Synonym des Internets” geworden. Die Menschen wollten online in Verbindung bleiben, dieses Anliegen durchdringe geradezu die arabische Kultur. Acht von zehn Erwachsenen (79 Prozent) nutzten inzwischen mindestens einmal täglich soziale Netzwerke oder Messaging-Angebote, insbesondere Facebook und Whatsapp – und zwar nahezu unabhängig von Geschlecht oder Alter.
Everette Dennis, Justin D. Martin und Robb Wood (alle Northwestern University in Katar) haben den Report erstellt. Finanziert hat ihn der Qatar National Research Fund. Die Ergebnisse wurden kürzlich bei der AEJMC-Konferenz, der Jahrestagung der amerikanischen Journalistenausbilder, in San Francisco vorgestellt. Es ist das dritte Mal in Jahresfolge, dass die Daten systematisch erhoben wurden; damit ist es erstmals in der Region möglich, die Entwicklung über einen Zweijahreszeitraum hinweg zu verfolgen.
Insgesamt zeigt der Vergleich große Differenzen bei der Nutzung von Internet und sozialen Netzwerken. Am meisten verbreitet sind sie in den Arabischen Emiraten, in Katar und in Saudiarabien. Ägypten, Tunesien und Libanon hinken in der Entwicklung hinterher, holen aber in atemberaubendem Tempo auf. In Ägypten hat sich die Internetnutzung in den letzten zwei Jahren von 22 auf 45 Prozent der Bevölkerung verdoppelt; im Libanon nahm die Zahl der Internetnutzer von 58 auf 79 Prozent zu. Meist werden Mobiltelefone und nicht Laptops oder Desktops als Zugangsgeräte genutzt.
Wunsch nach Redefreiheit
Die Befragten wünschen sich insgesamt mehrheitlich Presse- und Redefreiheit, wobei allerdings diese Forderung in Saudiarabien von 10 Prozent und in Tunesien von 20 Prozent weniger Befragten unterstützt wird als zwei Jahre zuvor. Berücksichtigt man die politische Instabilität und die autoritären Regime in der Mehrzahl der analysierten Länder, überrascht es, dass in allen Ländern ein hoher Anteil der Nutzer “kein Problem damit hat, politische Meinungen online zu artikulieren”. Nur etwas mehr als ein Drittel der Befragten (35 Prozent) sorgt sich, dass der Staat ihre Online-Aktivitäten überwachen könnte.
“Akkurat und fair”
Im Vergleich mit westlichen Gesellschaften vertraut laut der Studie ein Großteil der Bürger “grundsätzlich den Medien”. 69 Prozent halten den Journalismus für glaubwürdig und denken, ihre Massenmedien berichteten Nachrichten “vollständig, akkurat und fair”. An diesem Punkt unterscheiden sich die Bewertungen noch nicht einmal signifikant zwischen Befragten mit geringem und hohem Bildungsstand. Es sind Zahlen, von denen europäische oder amerikanische Medien, die oftmals ihre Regierungen harsch kritisieren, aber auch häufig im Blick auf Klick-Maximierung und höhere Werbeerlöse die Berichterstattung sensationalisieren, nur träumen können.
Dabei sind die Glaubwürdigkeit und die wahrgenommene Qualität des Journalismus in den nationalen Medien in den wirtschaftlich und politisch stabileren Ländern der Golfregion höher als in Ägypten, Libanon und Tunesien. Der Grad der Pressefreiheit scheint kein Indikator für die Glaubwürdigkeit des Journalismus zu sein: Gemäss dem jährlichen Ranking von Reporter ohne Grenzen ist Libanon (Rang 98) das einzige untersuchte Land, das nur “erkennbare Probleme” hat. Katar (Rang 115), die Arabischen Emirate (Rang 120) und Tunesien (Rang 126) haben eine “schwierige Lage” im Blick auf Presse- und Meinungsfreiheit, während die Situation in Ägypten (Rang 158) und Saudiarabien (Rang 164) als sehr ernst eingeschätzt wird.
Weitere überraschende Ergebnisse der Umfrage: Jüngere Nutzer in der Nahostregion sind generell eher bereit, für Online-Journalismus zu bezahlen als ältere. Und Comedy ist, wie in den westlichen Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks, auch in den arabischen Ländern als Modus des Nachrichtenkonsums stark im Vormarsch. Während es plausibel erscheint, dass Jüngere (im Alter von 18 bis 24) öfter als die Gruppe der über 45-Jährigen solche Formate im Internet nutzen, überrascht es etwas, dass Frauen (79 Prozent) häufiger als Männer (72 Prozent) Comedy im Fernsehen ansehen.
Die Wissenschafter berichten auch von Restriktionen bei ihren Erhebungen. So konnten im Irak, in Iran und in Jemen keine Befragungen durchgeführt werden. In Ägypten hätten die Behörden einige Fragen zensiert, während die Forscher in Saudiarabien unbehelligt hätten arbeiten können.
Der Forschungsbericht liefert nicht nur erstmalig aktuelle Daten zum Wandel der Mediennutzung in arabischen Ländern, sondern besticht auch durch seine innovative Präsentation. Die Statistiken sind perfekt in Balkendiagrammen und Grafiken visualisiert, und online kann der Nutzer mit ihnen “spielen” und selbst die Datensätze auf verschiedene Weise kombinieren. So kann man zu eigenen Ergebnissen gelangen.
Erstveröffentlichung: NZZ vom 22. August 2015
Bildquelle: Hernán Piñera/flickr.com
Schlagwörter:Ägypten, Arabische Emirate, Internetnutzung, Katar, Medienutzung, Meinungsfreiheit, Nahost, Online-Journalismus, Pressefreiheit, Saudiarabien, soziale Netzwerke, Tunesien