In Kriegszeiten wächst der Druck auf Investigativjournalist:innen in der Ukraine – vor allem auf diejenigen, die auf Korruption und Missstände im Sicherheitsbereich aufmerksam machen. Besonders unabhängige Journalist:innen sind davon betroffen.
Anfang April wurde die ukrainische Medienlandschaft durch eine Nachricht aufgerüttelt. Der ukrainische Enthüllungsjournalist Evhenii Shulgat, der kurz zuvor das große Privateigentum von Illia Vitiuk, dem Leiter der Cybersecurity-Abteilung des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SSU), aufgedeckt hatte, erhielt auf den Straßen von Kiew seinen Einberufungsbescheid. Die zeitliche Nähe dieser beiden Ereignisse kam vielen unabhängigen Medien verdächtig vor. Slidstvo Info recherchierte über die Hintergründe und kam zu dem Schluss, dass der Einberufungsbrief als Rache für die Ermittlungen gegen Shulgat übergeben wurde.
Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee hat bereits eine Untersuchung dieses Falles angeordnet, und am 9. April wurde Vitiuk vorübergehend vom Dienst suspendiert. Journalist:innen, die an dem umstrittenen, von der Regierung organisierten United News Telemarathon teilnehmen, sind aufgrund ihrer strategischen Arbeit von der Mobilisierung ausgenommen – obwohl nur 36 % der Ukrainer dem Telemarathon vertrauen. Unabhängige Journalist:innen genießen jedoch keine solchen Privilegien seitens der Regierung.
Zu Beginn des Jahres gab es innerhalb weniger Tage zwei weitere auffällige Fälle von Druck auf investigative Journalisten.
Der Enthüllungsjournalist Yurii Nikolov veröffentlichte ein Video, auf dem zu sehen ist, wie eine Gruppe von Menschen versucht, in sein Haus einzudringen. Sie zerstörten die Tür und riefen ihm zu, er solle an die Front gehen. Jurij Nikolow ist der Autor der vielleicht bekanntesten Anti-Korruptionsrecherche seit Beginn des Krieges, in der umfangreiche Geldwäsche durch das Verteidigungsministeriums bei der Beschaffung von Lebensmitteln für die Armee aufgedeckt wurde. Die Kette von Ermittlungen über diesen und weitere Korruptionsskandale, an der Nikolov prominent beteiligt war, führte Berichten zufolge zur Entlassung des vorherigen Verteidigungsministers Olexiy Reznikov.
Telegramkanäle, die angeblich dem Büro des Präsidenten nahestehen, verbreiteten das Video der Attacke gegen Nikolov und gratulierten den Angreifern. Sie nannten die Täter “Soldaten, die gerade von der Front zurückgekehrt sind” und behaupteten, sie wollten Gerechtigkeit. Vitaliy Shabunin, Vorstandsvorsitzender des Antikorruptionszentrums, vermutete, dass die Geschwindigkeit, mit der die Informationen auf solchen Kanälen auftauchten, auf eine Beteiligung des Präsidialamtes hinweisen könnte. Yurii Nikolov bringt diesen Angriff mit seiner beruflichen Tätigkeit und seiner Kritik am Präsidenten in Verbindung.
Im März erklärte Yurii Nikolov, dass die Täter nur geringe Geldstrafen wegen Rowdytums erhalten hätten. Seiner Meinung nach waren die Ermittlungen daher weit davon entfernt, fair und transparent zu sein.
Unabhängiges Medium abgehört
Im Januar 2024 erlebte Bihus Info, eines der angesehensten unabhängigen investigativen Medien, eine noch alarmierendere Geschichte. Im Jahr 2023 veröffentlichte Bihus zahlreiche Untersuchungen über Geldwäsche in verschiedenen Bereichen, vom Verteidigungssektor bis zum Bausektor. In einigen Veröffentlichungen wurde behauptet, das Präsidialamt sei in die Geldwäsche verwickelt gewesen.
Anfang 2024 veröffentlichte ein bis dahin unbekanntes, neu gegründetes Medienunternehmen ein durchgesickertes Video der internen Silvesterverfeier von Bihus Info, bei der mehrere Mitarbeiter des Medienunternehmens Drogen gekauft und konsumiert hatten. Wie spätere Nachforschungen ergaben, hatte dieses Medium vor der Veröffentlichung noch nie existiert, und alle auf der Website erwähnten Mitarbeitendenprofile wurden von KI generiert.
Die durchgesickerten Videos und Telefongespräche führten zu einem massiven Skandal, nicht wegen des Drogenkonsums einiger Mitarbeitenden, sondern wegen der illegalen versteckten Kameras, die eines der bekanntesten unabhängigen investigativen Medien des Landes überwachten. In einer eigenen Untersuchung fand Bihus Info heraus, dass die Installation der versteckten Kameras und Mikrofone von der SSU-Abteilung für den Schutz der nationalen Staatlichkeit vorgenommen wurde, angeblich mit Hilfe der Abteilung für operationelle und technische Unterstützung.
Versteckte Kameras wurden in den Hallen, im Keller und an den Wänden installiert. Die Installation der Spionageprogramme dauerte sechs Tage und umfasste mehrere Dutzend SSU-Mitarbeitende. In einem Kommentar enthielt sich der SSU der Frage, ob sie eine gerichtliche Anordnung zur Installation aller versteckten Geräte hatte. Auch wurde nicht beantwortet, wie die Videos an die neu erstellten Medienkanäle gelangten. Nach Angaben der aufgezeichneten Personen liegen einige der durchgesickerten Telefonmitschnitte mehr als ein Jahr zurück. Das bedeutet, dass die Telefone mehrerer Medienmitarbeitenden etwa ein Jahr lang illegal überwacht wurden.
Nach dem Bekanntwerden der Aufnahmen erhielt Bihus Info viel öffentliche Unterstützung. Die Mitarbeitenden, die in dem Video Drogen konsumieren, wurden entlassen. Der Ruf des Mediums blieb jedoch ungetrübt. In den meisten Kommentaren in den sozialen Medien hieß es, dass die Zuschauer nicht daran interessiert seien, was das Medienteam außerhalb seiner Arbeitszeit tue, sondern an den Ergebnissen seiner Arbeit. Und diese seien glaubwürdig.
Der SSU reagierte auf die Untersuchung und erklärte ihre Handlungen als Anti-Drogen-Aktivitäten. Nach ihren Worten war einer der Betreiber von Bihus Info ein Kunde eines der Dealer, die der SSU zu fassen versuchte. Daher überwachte der SSU den Ort, an dem die Firmenveranstaltung stattfand, um die Dealer zu finden. Sie betonten die Bedeutung der unabhängigen Medien und versprachen, den Fall ebenfalls zu untersuchen.
Nach dem Skandal wurde Roman Semtschenko, der Leiter der Abteilung für den Schutz der nationalen Staatlichkeit, rasch entlassen. Im Gespräch mit Bihus Info hat er seine Beteiligung und die Beteiligung der Abteilung an der verdeckten Überwachung von Journalisten nicht bestritten und sich jeglichen Kommentars enthalten. Der SSU hat in der Tat Ermittlungen wegen illegaler Eingriffe in das Privatleben eingeleitet, allerdings wurden bisher keine Ergebnisse veröffentlicht.
In Kriegszeiten sind Ermittlungen über Korruption im Sicherheitsbereich für das reibungslose Funktionieren des Landes unerlässlich. Diejenigen, die sie durchführen, sollten das gleiche Maß an Sicherheit genießen wie diejenigen, die am Nachrichtenmarathon der Regierung beteiligt sind. Zwar kann man nicht behaupten, dass der investigative Journalismus in der Ukraine ernsthaft bedroht ist, doch wird das alarmierende Muster der Verfolgung von Personen, die über Machenschaften bei den Sicherheitskräften und im Präsidialamt recherchieren, immer deutlicher.
Die Sanktionsmechanismen für Personen, die Druck auf unabhängige Journalisten ausüben, sind ebenfalls zu schwach. Zwar wurden betroffene Beamte entlassen, aber bisher gab es noch nie eine richtige Untersuchung, die größere Folgen nach sich gezogen hätte. Die Mechanismen für transparente Ermittlungen sollten ausgebaut werden, um die Sicherheit aller Journalist:innen zu gewährleisten.
Schlagwörter:Bihus.Info, Investigativjournalismus, Pressefreiheit, Ukraine