Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung vom 10.05.2010
Nicht alles im Netz ist Remix. Der Respekt vor Medien- und Textgattungen darf bestehen bleiben.
Verändert sich der Journalismus, wenn er aus dem Print- ins elektronische Medium wechselt? Nur die Formenvielfalt wird größer, und der traditionelle Journalismus erhält die Chance, seine Stärken wieder vermehrt zu nutzen.
Eine rot umrandete Warnung ziert als Eigenwerbung eine ganze Seite der US-Zeitschrift: « Harper’s Magazine is 100% Content Free!» Darauf auch ein rotes Warnschild, auf dem das Wort «content» durchgestrichen ist.
Die kurzzeitige Irritation ob der Frage, wie ein aktuelles politisches und literarisches Magazin inhaltsfrei sein könne und welcher Widerspruchsteufel die Herausgeber da wohl geritten habe, verfliegt schnell, wenn man weiterliest. Was dann kommt, löst einen anderen Widerspruch für viele lese-, journalismus- und literaturaffine Menschen auf, der sich seit langem mehr oder minder merklich aufgebaut hat: die Vermischung und Nivellierung aller – von erheblichen kategorialen Unterschieden geprägten – Inhalte im Internet unter dem Begriff «content».
Inhalt und Gehalt
In der englischen Sprache hat «content» zwei Bedeutungen. Zum einen meint es allgemein den «Inhalt» zum Beispiel eines Mediums. Zum anderen meint es den «Gehalt» von Informationen oder auch medialen Inhalten. Dass es zwischen diesen beiden Bedeutungen einen erheblichen Unterschied geben kann, haben wir im Zuge der Verallgegenwärtigung des Begriffs «content» als Beschreibung dessen, was wir im Internet an Inhalten finden, leider aus dem Blick verloren. Hier steht «content» für eine generalisierte Produktkategorie von Angeboten, deren Gehalt erst einmal zweitrangig ist, solange sie sich vermarkten lassen.
Seit mehr als zehn Jahren sind viele Medienunternehmen intensiv mit der Frage beschäftigt, wie sich ihre Geschäftsmodelle ins Netz hinüberretten und wie sich die Inhalte im Internet besser vermarkten, sprich: verkaufen lassen. Als Konsequenz daraus hat sich «content» zu einer Metakategorie entwickelt, die Inhalte im Netz in erster Linie aus ökonomischer Perspektive betrachtet. Daran ist nichts verwerflich, denn Medienangebote, Filme, Literatur müssen entgegen allen Grundannahmen der «free content»-Bewegung natürlich verkauft werden, damit ihre kreativen Urheber und Produzenten die mit diesen Inhalten verbundenen Kosten decken können.
Im Netz fliessen potenziell alle Inhalte zu einem großen Datenstrom zusammen. Das ist jedenfalls technisch möglich, wird im Sinne der «Crossmedialität» (eine weitere Wortstanze, bei der manch einem inzwischen die Augen flimmern) auch immer wieder als mediale Zukunft propagiert. Aber werden sie damit auch in ihrem Gehalt immer ähnlicher, wie es die «Mash-up-Kultur» nahelegt? Darauf gibt die Werbekampagne von «Harper’s Magazine» eine klare Antwort: «Everybody gives you <content>. But you’ll never find that in Harper’s Magazine. Instead, you’ll get literature. Investigative reporting. Criticism. Photojournalism. Provocative adventures. Daring commentary. And truth-telling as only Harper’s Magazine can tell it.» Das ist eine Werbung für den Respekt vor Gattungsunterschieden von Medieninhalten und ein Plädoyer für die verschiedenen Funktionen, die Texte bisher hatten – von der aktuellen Information über das Erzählen bis zur Meinungsbildung.
Wenn wir uns im Internet umschauen, dann stellen wir fest, dass es eine ganze Reihe von neuen Inhalten gibt, die tatsächlich netzspezifisch innovativ sind oder die eine Hybridform aus traditionellen Inhaltskategorien und neuen Formen der Netzkommunikation darstellen. Dazu gehören zum Beispiel Weblogs. Ausserdem erwachsen dem Internet neue Erzählkulturen, die sich alle Möglichkeiten und Formen der Informationsvermittlung und des Erzählens dienstbar machen. Dazu zählen journalistische Artikel oder auch Romane, an denen interessierte Leser im Netz mitschreiben können, um so wiederum zu Autoren zu werden. Und dazu gehören dann auch Produkte wie Helene Hegemanns «Axolotl Roadkill», die man in tradierter Einordnung als Plagiat bezeichnet hätte, die aber nun plötzlich als «webbasierte Intertextualität» eine neue Textkultur begründen – ein «Pfingstrosen-Nebelstern» im publizistischen Universum, der womöglich ebenso schnell verglüht, wie er derzeit hell leuchtet.
Alles, was mit Veröffentlichung zu tun hat, ist primär von der Suche nach Aufmerksamkeit getrieben. Eine Botschaft ist darauf gerichtet, wahrgenommen zu werden, im Wettbewerb um Aufmerksamkeit gegen andere Botschaften zu bestehen, ja diesen zu gewinnen. Im Internet hat sich dieser Wettbewerb verschärft. Beschleunigung, Fragmentierung und Subjektivierung von Informationen im Netz betonen die spontane Reaktion statt der Reflexion, die punktuelle Aktualität statt der kontextuellen Einordnung, persönliche Positionierung und Parteilichkeit statt journalistischer «checks and balances». Das Netz ist das am stärksten dekonstruktivistische Medium, das wir kennen. «The remix is the very nature of the digital», hat uns William Gibson schon vor Jahren im Magazin «Wired» verkündet.
Ist die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen von Inhalten im Netz also obsolet geworden? Haben wir zu Recht den Respekt vor den Gattungen begraben, um uns zwangloser im digitalen Remix neu erfinden zu können? So einfach ist es wohl doch nicht. Denn mediale Angebote in Text und Bild haben ihre Funktion keineswegs verloren. Sie liegt weiterhin darin, uns die soziale Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen. Ohne zeitliche, sachliche und soziale Synchronisation durch Themen und Inhalte der Medien werden wir zu digitalen Einsiedlern. Dann werden wir zu Opfern eines ins Gegenteil verkehrten Metcalfschen Gesetzes: Auch wenn immer mehr technische Netzwerkknotenpunkte uns verbinden und einen theoretischen Mehrwert bieten, vereinsamen wir sozial. Ein Thema, über das ich nur mit mir selbst sprechen kann, wird schnell langweilig.
Das Internet hat gänzlich neue Arten und Formen von Texten hervorgebracht, die Altbekanntes auf zum Teil faszinierende Weise ergänzen. Es lässt sich unter dem Begriff der Individualpublizistik zusammenfassen, was im Netz eher als «user generated content» geführt wird. Diese Individualpublizistik verbindet sich inzwischen mit traditionellen publizistischen Formen, beispielsweise in der Integration von Bürgerjournalismus in die Websites von Zeitungen. Der britische «Guardian» ist dafür ein herausragendes Beispiel.
Diese Entwicklung hat besonders viel Hoffnungen und Sorgen hervorgerufen. So sprechen die Netzoptimisten von der Demokratisierung der Inhalte, der kritischen Nutzerbeteiligung, wie manche Medientheorien (z. B. das epische Theater Bertolt Brechts oder Hans Magnus Enzensbergers Medienbaukasten) sie schon vor Jahrzehnten gefordert haben. Die Netzpessimisten befürchten, dass es zwar immer mehr Inhalte, aber immer weniger Gehalt im Netz gibt, wenn jeder sein eigener Autor und Journalist wird. Beide haben recht. Beides gibt es im Internet. Und deshalb gibt es keinen Grund zur Sorge.
Wenn wir nach einem Leitcode für die Individualpublizistik suchen, dann lautet er subjektiv/intersubjektiv. Wer im Netz publiziert, tut dies erst einmal aus einer individuellen Motivation heraus und im Eigeninteresse. Ihre Funktion ist es, den «spontanen Ausdruck eines momentanen Gedankens» zu ermöglichen, wie es der US-Starblogger Andrew Sullivan beschreibt. Ihre Inhalte sind daher kontingent und extrem porös. Es gibt keine erlaubten und unerlaubten Grenzen und Referenzen. Alles ist transitorisch. Sprache ist dabei «work in progress», ebenfalls spontan, subjektiv, oft frei von Formen und Vorgaben – «writing out loud», wie Andrew Sullivan es nennt.
Wer sich allein aus Blogs informieren will, muss viel Zeit und Energie aufwenden. Deshalb bleibt auch im Internet ein Platz für guten Journalismus. Seine Funktion ist es, einen Beitrag für die sachliche, soziale und zeitliche Synchronisation unserer Gesellschaft zu liefern. Sein Mittel ist die Thematisierung oder das Agenda-Setting. Und sein Leitcode ist aktuell / nicht aktuell. Wenn wir uns als Bürger, Konsumenten, soziale Gefährten jeden Tag neu verständigen wollen, brauchen wir diesen Journalismus, der Recherche, investigatives Arbeiten und eine professionelle Beobachtungsgabe sowie ein entsprechendes Einschätzungs- und Einordnungsvermögen voraussetzt.
Besinnung auf die Kernaufgabe
Die Aktualität ist dabei der zeitliche Filter, mit dem auch der Journalismus im Netz seine Auswahl trifft, Themen für die Leser selektiert. Und zuweilen ist dieser Filter durch die Beschleunigung so eng geworden, dass nur noch der Zeitfaktor eine Rolle spielt und andere Selektionskriterien auf der Strecke bleiben. Schnelligkeit schlägt Sachgenauigkeit und Relevanz. Im Netz wird das zum Teil so bleiben. Aber in den traditionellen Medien erleben wir seit einiger Zeit eine erfreuliche Neubesinnung auf die sachliche und soziale Aktualität in Form von debattenorientierter Hintergrundberichterstattung, längeren Stücken, fast literarisch erzählenden Reportagen. Dafür bleibt die Sprache auch so wichtig, weil sie nicht nur Instrument, sondern im Wortsinne Verwirklichungsmedium des Journalismus ist.
Die Formen werden also vielfältiger. Aber die Kernaufgabe des Journalismus bleibt bestehen ebenso wie seine exklusive Codierung durch Aktualität. Wenn er sie im Sinne gesellschaftlicher Synchronisation zu nutzen versteht und dabei nicht die Ohren vor dem «writing out loud» verschliesst, dürfen wir uns auf die Zukunft des Journalismus freuen. Er wird dann weit mehr hervorbringen, als «content» zu beschreiben vermag.
Miriam Meckel ist Professorin für Corporate Communication am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen und derzeit Fellow am Berkman Center for Internet & Society der Harvard University, USA.
Schlagwörter:Blogs, Bürgerjournalismus, content, Individualpublizistik, Internet, Journalismus, Online, Print