Charlie Hebdo ist zum Symbol geworden: Hier zum Sinnbild für die Pressefreiheit, dort verkörpert das Blatt die Verunglimpfung des Islam. Eine doppelte Tragik für die mörderisch dezimierte Redaktion: Neben dem schmerzhaften Verlust ihrer Kollegen hat sie auch die Definitionsmacht über das eigene Schaffen verloren.
Zeigen oder nicht zeigen? Die Abbildung des Titelblatts der aktuellen Charlie-Hebdo-Ausgabe entwickelte sich zur Glaubensfrage. Redaktionen und Journalisten verwendeten viel Zeit und Energie darauf, ihren Entscheid zu verteidigen. Egal, wie sie sich auch entschieden haben: Die Fokussierung auf eine einzelne Seite reduziert eine bewegte, rund fünfzigjährige Mediengeschichte auf ein einziges Blatt.
Die wenigen Ausnahmen, wo sich Journalisten die Mühe genommen haben, die Bedeutung der linken Satirezeitschrift verständlich zu machen, bestätigen nur die Regel, wonach Charlie Hebdo als islam- oder allgemeiner: religionsfeindliche Publikation dargestellt wurde. Nach der Mordtat verstellt der Islam-Filter den Blick auf den publizistischen Facettenreichtum des Satireblatts. Damit spielt man das Spiel der islamistisch inspirierten Attentäter und verrät letztlich die Ideale derer, für die man zu kämpfen vorgibt.
Die Macher von Charlie Hebdo wehren sich gegen jegliche Lesart ihrer Zeichnungen als Symbole. “Wir tragen auf unseren Schultern eine symbolgeladene Last, die es so in unseren Zeichnungen nie gab”, beklagt sich der überlebende Redakteur und Zeichner Renald Luzier alias Luz. Charlie wehre sich gegen diese Symbolik. “Wir arbeiten immer an konkreten Punkten und befassen uns mit spezifischen Fragen”, erklärt Luz.
Außerhalb Frankreichs krankt die Berichterstattung an einem großen Miss- und noch größeren Unverständnis. Was ist überhaupt Charlie Hebdo? Nur wenige Medien haben sich die Mühe und Zeit genommen, ihrem Publikum zu erklären, welche Rolle die Zeitschrift seit ihrer Gründung 1970 in Frankreich spielt. Während Medien seitenweise die Biografien und mögliche Motive der Täter ausbreiten, bleiben die Opfer erstaunlich blass. So durchtrennt die Schweiz einen Charlie-Graben: In der Westschweiz, wo die Satirezeitung und ihre Macher als Figuren des öffentlichen Lebens bekannt sind, veröffentlichten die Medien große Nachrufe und Porträts der Ermordeten. In der Deutschschweiz dagegen bleibt es bei vergleichsweise bescheidenen Erklärungsansätzen, die sich vor allem auf die letzten Jahre konzentrierten.
Den wohl besten Schlüssel für das Verständnis von Charlie Hebdo gab einem Nils Minkmar, Europa-Kulturkorrespondent der FAZ, in die Hand. Der deutsch-französischer Doppelbürger beschreibt eindrücklich, wie Charlie Hebdo in der Biografie Heranwachsender in Frankreich bald einmal auf Asterix & Obelix folgt: “Kaum hat der brave französische Junge alle Asterixhefte durch und das Ideal der wildschweinseligen Subversion am römischen Imperium verinnerlicht, reicht ihm etwa der Großvater einen Stapel satirischer Hefte, und darin ist der wahre Zaubertrank.”
Die Charlie-Macher begleiten Millionen von Franzosen von Kindesbeinen auf. Ihr Wirkungskreis ist viel größer, als die bescheidene Auflage der Zeitung einen glauben lassen könnte. Die meisten Zeichner und Redakteure bewegen sich noch auf anderem Parkett und veröffentlichen in befreundeten Publikationen. Cabu wiederum, der Zeichner mit der lustigen Frisur, präsentierte während zehn Jahren die Kinderfernsehsendung “Récré A2″. Wolinski veröffentlichte zahlreiche Comic-Bände. Luz tritt als DJ auf, so auch schon an Festivals in der Westschweiz.
Als hätte man in Deutschland Loriot ermordet, versuchte eine Autorin im Berliner Tagesspiegel die Bedeutung des Anschlags für Nicht-Franzosen einzuordnen. In der Schweiz wäre es Emil.
Erstveröffentlichung: Medienwoche vom 26. Januar 2015
Bildquelle: Valentina Calà/flickr
Schlagwörter:Charlie Hebdo, Nick Lüthi, Pressefreiheit, Satire, Symbol