Von Assange zu Apfelkuchen: Dieser Weg ist gar nicht so weit, wie man zunächst vermuten würde.
Julian Assange, Wikileaks-Gründer, wurde letztlich doch nicht vom Time Magazine zum Mann des Jahres gekürt. Trotzdem bestimmten die Wikileaks-Kontroverse und die anschließende Mediendiskussion die journalistische Themenagenda des zu Ende gegangenen Jahres.
Interessant in diesem Zusammenhang waren die Ansichten einiger Verlage, die als Vermittler eine gewisse Rolle im Wikileaks-Spiel einnahmen und dabei etliche journalistische Standards außer Acht ließen: die Sicherstellung der Echtheit von Informationen, die Prüfung von Quellen und Fakten, die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses. Die eigentliche Nachricht ging verloren. Die Medien beteiligten sich vielmehr an Klatsch und Tratsch.
Eine große Tragweite hatte auch folgender Fall aus den Vereinigten Staaten: In seinem Blog Regret the Error zeigt Craig Silverman, dass auch kleine journalistische Fehltritte große Auswirkungen haben können. „Fehler des Jahres 2010“ war für ihn der Artikelklau der amerikanischen Kochzeitschrift Cooks Source.
Was steckt hinter dem Kochartikel-Diebstahl? Die freie Autorin Monica Gaudio erhielt im Oktober vergangenen Jahres eine interessante Information einer Bekannten: Sie teilte ihrer Freundin mit, dass sie ihren Artikel über die amerikanische Back-Tradition des Apfelkuchens auf der Webseite vonCooks Source gelesen habe – obwohl Gaudio diesen Artikel gar nicht bei Cooks Source eingereicht hatte.
Gaudio hatte ihre Story über amerikanische Apfelkuchen vor einigen Jahren auf ihrer eigenen Website veröffentlicht – und mit einer Urheberrechtserklärung versehen. Cooks Source übernahm den Artikel, ohne die Verfasserin darüber zu informieren. Die Autorin war sauer und beschwerte sich bei Judith Griggs, einer Redakteurin der Kochzeitschrift. Die Antwort, die sie per E-Mail erhielt, gilt seitdem im anglo-amerikanischen Sprachraum als legendär:
„Also wirklich, Monica, Inhalte im Internet sind doch ein öffentliches Gut und Du solltest froh sein, dass wir Deinen Artikel nicht einfach abgekupfert und einen anderen Namen drunter gesetzt haben!“
Die Mail ging noch weiter: “aber Du solltest wissen, dass wir Deinen Artikel noch ziemlich redigieren mussten… Wir haben da noch viel Arbeit rein gesteckt, Du solltest mich eigentlich dafür bezahlen! Ich gebe jungen Autoren immer gern Ratschläge und redigiere auch gern ihre schlechten Artikel – dafür schreiben sie für mich immer gratis!“
Die Autorin machten den Briefwechsel im Internet öffentlich – damit schwappte eine Beschwerdeflut erzürnter Leser in die Redaktion: Cooks Source wurde mit E-Mails und Anrufen bombardiert; auch Anzeigekunden zogen ihre Inserate zurück. Außerdem haben bedeutende US-Medien wie die Los Angeles Times, die Washington Post oder Forbes die Geschichte vom geklauten digitalen Apfelkuchen erzählt.
Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum Cooks Source mit dem “Fehler des Jahres” ausgezeichnet wurde. Nach genauer Überprüfung hat sich herausgestellt, dass die Zeitschrift noch 160 andere Artikel von anderen Websites geklaut und als eigenen Inhalt ausgegeben hat. Das ist nicht nur ein Fehler, sondern ein Beispiel für schlechten Journalismus. Dieser Biss in den digitalen Apfelkuchen muss für Leser und Autorin sauer gewesen sein.
Erstveröffentlichung : Corriere del Ticino vom 31. Dezember 2010
Original auf Italienisch: Da Wikileaks alla torta di mele. Che cosa ci insegna il 2010
Übersetzt aus dem Englischen von Tina Bettels und Andreas Sträter. Es handelt sich um eine leicht gekürzte Version.
Schlagwörter:Cooks Source, Craig Silverman, Fehler, Journalistische Glaubwürdigkeit, Judith Griggs, Julian Assange, Monica Gaudio, Regret the Error, Wikileaks