Eine Frau sitzt verletzt und benommen auf einer Bank, von ihrer Bluse sind nur noch Fetzen übrig. Neben ihr sitzt eine andere verletzte Frau, die mit ihrem Handy telefoniert. Nur wenige Minuten zuvor haben sich am Brüsseler Flughafen zwei Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt und mehr als ein Dutzend Menschen mit in den Tod gerissen, Hunderte wurden verletzt. Das Foto der beiden Frauen auf der Bank im Terminal des Flughafens ging bald darauf um die Welt. Es stammt von der Journalistin Ketevan Kardava aus Georgien, die später von vielen dafür kritisiert wurde, die Opfer sofort fotografiert zu haben anstatt ihnen zu helfen.
„Ich weiß nicht mehr, wie ich auf den Auslöser gedrückt habe. Als Journalistin bin ich meinem Instinkt gefolgt“, so Kardava später. „In diesem Augenblick erkannte ich, dass es wichtiger ist, der Welt zu zeigen, was in diesem Moment des Terrors geschah.“
Auch der südafrikanische Fotograf Kevin Carter erntete 1993 für sein aufwühlendes Foto eines Hunger leidenden Kindes im Sudan, das von einem Aasgeier belauert wurde, viel Kritik. Was aus dem Kind wurde, weiß man nicht; Carter gewann mit seinem Foto den Pulitzer-Preis. Ein Jahr darauf beging er Selbstmord.
Sollten Journalisten in Notsituationen eingreifen oder einfach nur das festhalten, was sie sehen? Wo verläuft die Grenze zwischen Handlungen, die moralisch noch als gerechtfertigt empfunden werden und jenen, die sie überschreiten? Und wer legt diese Grenze fest?
Die Auswirkungen von digitaler Technologie auf Ethik im Fotojournalismus
Die digitale Revolution hat einige moralische Dilemmas verstärkt, von denen Fotojournalisten betroffen sein können. Digitale Technologien ermöglichen es, Änderungen am Bild ebenso leicht vorzunehmen wie auf den Auslöser zu drücken. Und noch schlimmer – es ist nahezu unmöglich festzustellen, ob ein Bild manipuliert wurde.
Wie eine aktuelle Studie eines Forschungsteams des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Journalismus an der Karls-Universität Prag zeigt, haben Fotojournalisten aber durchaus ein starkes Gespür für Professionalität und ein ethisches Bewusstsein. Für die Studie wurden 60 Interviews mit festangestellten und freiberuflichen Fotojournalisten aus Tschechien (45), Polen (15) und der Slowakei (15) geführt.
Die Wissenschaftler stellten fest, dass Entscheidungen, die von den befragten Fotojournalisten getroffen wurden, immer vom jeweiligen Kontext abhingen. So sind nach Ansicht der Befragten auch ethisch fragwürdige Praktiken unter bestimmten Bedingungen akzeptabel. Als ethisch fragwürdige Praktiken wurden von den Befragten inszenierte Fotografien, Zahlungen für exklusive Informationen oder Zugänge sowie die Veröffentlichung von Fotos von Personen, die mit der Aufnahme nicht einverstanden waren, aufgeführt. Die Fotojournalisten unterschieden dabei oft zwischen harten Nachrichten und Bildmotiven aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und weicher Berichterstattung wie Lifestyle-, Feature- und Illustrationsfotografie. Im Fall von harten Nachrichten wurden Bildbearbeitungen und Manipulationen am wenigsten toleriert.
Die befragten Fotojournalisten äußerten auch ethische Bedenken, wenn es um die Darstellung von Krisen und menschlichem Leid ging. Die Entscheidung, ob man bei einem dramatischen Ereignis auf den Auslöser drückt oder sich stattdessen um die Opfer kümmert, ist immer mit moralischen, humanistischen und rechtlichen Fragen verknüpft. Die Fotojournalisten betonten, dass jede Situation sorgfältig betrachtet werden müsse, es aber Grenzen gebe und der Nachrichtenwert nicht Vorrang vor dem Leisten Erster Hilfe haben sollte.
Die Mehrheit der Befragten billigte es nicht, ohne elterliches Einverständnis Fotos von Kindern aufzunehmen oder zu veröffentlichen. Bei Fällen, in denen es um die Aufnahme und Veröffentlichung von Fotos ging, die Katastrophen, Opfer, Gewalt und Nacktheit zeigen, zeigten die Befragten in ihren Antworten ein hohes Maß an Verantwortung. Bezüglich der Debatte um Boulevardisierung und Infotainment nahmen sie eine eher konservative Haltung ein.
Bildbearbeitung nur dann, wenn sie Aussage des Fotos nicht verändert
Die befragten Fotojournalisten machten deutlich, dass alle Fotos, die heutzutage in Nachrichtenmedien veröffentlicht werden, digital bearbeitet werden. Bearbeitungen wie die Vertiefung von Farbtönen, die Verstärkung von Bildkontrasten und das Zuschneiden werden dabei als völlig gang und gäbe angesehen. Nur vereinzelte Fotojournalisten lehnten diese Bearbeitungen, vor allem das Zuschneiden, ab.
Aber auch die Fotojournalisten, die nichts gegen gewöhnliche Bildbearbeitungen hatten, betonten, dass sie Veränderungen am Bild nur akzeptierten, wenn sich dadurch die ursprüngliche Aussage des Fotos nicht verändere.
Bezüglich der digitalen Bildbearbeitung bei weichen Inhalten und Illustrationen zeigten sie sich gelassener. Mehrere Befragte sagten, sie hätten bei Illustrationen auch kein Problem mit Foto-Montagen, solange es gekennzeichnet sei, dass es sich um eine Illustration und Montage handele.
Mittelosteuropäische Fotojournalisten neigen dazu, nach ihren eigenen Standards und ethischen Kodizes zu arbeiten, anstatt sich der Regulierung einer offiziellen Institution zu unterwerfen.
Unter Journalisten in dieser Region ist ein Misstrauen in Berufsverbände und Gewerkschaften weit verbreitet, da die totalitären Regierungen diese während des Kommunismus zu ihren Zwecken eingesetzt hatten. Dies könnte auch der Grund dafür sein, warum nur wenige Fotojournalisten Mitglieder in einem journalistischen Berufsverband sind und es auch keine Organisationen gibt, die sich speziell an Fotojournalisten richten, wie die NPPA (National Press Photographers Association) in den USA.
Die künftige Debatte sollte trotzdem Überlegungen beinhalten, in Mittelosteuropa journalistische Berufsverbände mit Fokus auf visuellen Inhalten zu gründen, die zur Entwicklung einer professionellen Kultur von Fotojournalismus in der Region beitragen und auch einen Ethikkodex hervorbringen könnten.
Englische Originalfassung: Photojournalism and Ethics: Research from Central Europe
Bildquelle: Screenshot theguardian.com vom 23. März 2016
Schlagwörter:Bildbearbeitung, Ethik, Fotojournalismus, Mittelosteuropa, Polen, Slowakei, Tschechien