Der Snowden-Effekt, Wikileaks und Watergate

5. Februar 2014 • Pressefreiheit • von

Auf den ersten Blick scheint Präsident Obamas jüngster Auftritt Dan Gillmor recht zu geben: Die Enthüllungen von Edward Snowden seien „ein klassisches Beispiel für ‚kritische Masse‘ im Journalismus“, sagt der Internet-Guru, und fügt in seinem Beitrag für das Nieman Journalism Lab der Harvard University hinzu, die für die Überwachungsprogramme zuständigen Regierungen hätten wohl gehofft, „dass sich das Thema in Bälde in Luft auflösen“ werde.

Nach den jüngsten Enthüllungen des Guardian, der New York Times und des Spiegel müssten sie einsehen, dass dies so schnell nicht geschehen werde.

„Wir haben jetzt erfahren, dass die NSA und ihr britisches Gegenstück eine Vielzahl von Leuten und Organisationen ausspioniert haben, die keinerlei plausible Verbindung zum Terrorismus haben – eine Bestätigung, dass die Überwachung unter anderem Zielgruppen aus der Wirtschaft mit einschloss.” Und dann fügt Gillmor fast schon euphorisch hinzu, die Geschichten basierten alle auf denselben Dokumenten, die Snowden Journalisten zugespielt hatte. Stück um Stück enthüllt, sei die öffentliche Aufmerksamkeit für die Geschichte bisher nicht geschwunden.

Nicht geschwunden? Es ist spannend, wie unterschiedlich auch Wissenschaftler ein und denselben Sachverhalt wahrnehmen können. Präsident Nixon ist über einen Einbruch ins Headquarter der Demokratischen Partei in Washington gestolpert, und er musste zurücktreten, weil er dieserhalb gelogen hat. Präsident Clinton wurde um ein Haar seines Amts enthoben, weil er seine Praktikantin, Monica Lewinsky, verführte. Barack Obama ist politisch dafür verantwortlich, dass weltweit Millionen Menschen, darunter auch befreundete Spitzenpolitiker wie Angela Merkel, ausgehorcht wurden.

Obschon amerikanisches Verfassungsrecht gebrochen wurde, sitzt Obama auch nach seiner Beschwichtigungsrede weiterhin im Weißen Haus – unangefochten von einer Presse, die offenbar sowohl ihre Macht als auch ihren Biss verloren hat: Was ist schon ein Einbruch in ein Parteibüro oder ein von Erwachsenen beiderseits konsentiertes sexuelles Abenteuer im Vergleich zu der Tatsache, dass dem jetzigen US-Präsidenten entweder die Kontrolle über seine Geheimdienste entglitten ist oder er deren millionenfachem Rechtsbruch billigend und stillschweigend zugesehen hat?

Doch diese „Geschichte“ hat – außerhalb der Zirkel professionell besorgter Intellektueller – eben bisher nicht die Aufmerksamkeitsschwelle durchstoßen, um eine „kritische Masse“ entstehen zu lassen. Die Washington Post hat kürzlich mit einer simplen Google-Suche herausgefunden, dass Snowden und „Datagate“ es noch nicht einmal zu einem der zehn  Top-Themen des Jahres 2013 gebracht haben. Namen wie Nelson Mandela, Paul Walker und Miley Cyrus rangierten vor Snowden, die Playstation 4, das iPhone 5 und der Harlem Shake vor dem Daten- und Abhörskandal.

Wie schlafmützig sind die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die westlichen Medien eigentlich, wenn es um elementarste Grundrechte wie den Schutz der Privatsphäre, aber auch die Pressefreiheit geht? Snowden und seine Enthüllungen haben – von wenigen Ausnahmen wie dem Guardian, dem Spiegel und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgesehen – eben von den etablierten Medien bisher nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienten.

Immerhin, Gillmors Schlussfolgerungen lässt sich zustimmen. „In einer Welt zunehmend fragmentierter Medienproduktion ist es schwieriger geworden, eine kritische Masse zu generieren. Soziale Netzwerke, virales Marketing können helfen.“ Um kritische Masse zu erreichen, fügt er hinzu, müssten „Journalisten alte Traditionen infrage stellen, insbesondere solche, die im Wettbewerb gründen”.

Exklusivgeschichten würden kontraproduktiv, wenn sie andere Journalisten dazu veranlassten, „Nachrichten herunterzuspielen oder zu ignorieren – sei es aus Eifersucht oder aus Unfähigkeit, selbst an das jeweilige Quellenmaterial heranzukommen.” In einem sich globalisierenden, aber fragmentierten Mediensystem müssten Redaktionen zusammenarbeiten. Der Guardian habe „ein großartiges Beispiel dafür geliefert“, wie solche transnationale „Coopetition“ – also die Kooperation unter Wettbewerbern – funktionieren könne.

Indes: Haben die Medien als „vierte Gewalt“ nicht etwas falsch gemacht, wenn die Menschen in Wien, Berlin, Zürich, London, Paris, New York, Washington und San Francisco es nicht bald den Ukrainern nachmachen und notfalls auch bei klirrender Kälte ihre Grundrechte auf der Straße verteidigen? Jedenfalls fehlt es eben bislang an der „kritischen Masse“, und vielleicht ist es dann ja auch bald vorbei mit Aufklärung, Privatsphäre und Pressefreiheit. Aus dem Medienlaboratorium Internet droht ein Gefängnis zu werden.

Wenn die Demokratie den Anschlag, ja den Terrorismus der Terrorbekämpfer in den westlichen Geheimdiensten überleben soll, müssen wir Bürgerinnen und Bürger in der saturierten westlichen Welt endlich unsere Freiheiten und die Zivilgesellschaft aktiv gegen die Übergriffe bornierter Regierungsapparate verteidigen.

Den „alten“ Medien käme dabei eine Schlüsselrolle zu. Laut Studien des Project for Excellence in Journalism produzieren sie weiterhin den Großteil der Inhalte, die auch in den „neuen“ Medien zirkulieren. Ihre Watchdog-Rolle spielen sie in den USA aber offenbar ganz anders als zu Zeiten, als die New York Times und die Washington Post mit ihren Enthüllungen zu den Pentagon Papers und Watergate erst das Ende des Vietnamkriegs eingeläutet und dann Präsident Nixon gestürzt haben.

Die Medienforscher Elizabeth Blanks Hindman (Washington State University) und Ryan J. Thomas (University of Missouri) haben die Kommentierung amerikanischer Zeitungen zu Wikileaks genauer unter die Lupe genommen. Erstaunlich viele Blätter haben sich demzufolge stark gegen Wikileaks positioniert, sich zugunsten der nationalen Sicherheitspolitik der USA ausgesprochen und sich selbst als „einzig legitime Hüter des öffentlichen Interesses“ dargestellt. Das war freilich vor Snowdens Enthüllungen zur Totalüberwachung durch die NSA, erklärt aber vielleicht doch, dass Snowden bisher so wenig bewirkt hat.

Erstveröffentlichung: Die Furche Nr. 4 / 2014

Bildquelle: Agência Senado / Flickr CC

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