Die Demoskopenversteher

18. September 2017 • Qualität & Ethik • von

Vor der Wahl wissen viele Leute ganz genau, was die Umfrageforscher alles falsch machen – und vergessen dabei, dass diese in aller Regel keine Anfänger sind.

Aus aktuellem Anlass soll hier kurz der Blick auf eine bestimmte Personengruppe gelenkt werden, die nur in Wahljahren in Erscheinung tritt, und die man deswegen rechtzeitig beobachten sollte, bevor sie wieder verschwindet: Die Demoskopenversteher. Anders als bei den Putin- oder Erdoganverstehern handelt es sich dabei nicht um einen über lange Zeit weitgehend unveränderten, klar umrissenen Personenkreis. Die Mitgliedschaft der Gruppe kann variieren. Auch ist ihr Urteil über den Gegenstand ihres Verständnisses nicht durchgängig positiv, sondern überwiegend negativ. Doch eines haben die Demoskopenversteher mit den Putin- und Erdoganverstehern gemeinsam. Sie verfügen über erstaunlich genaue Kenntnisse der Handlungsmotive ihres Beobachtungsgegenstandes. Sie wissen ganz genau, was Demoskopen tun, wie sie es tun und warum sie es tun. Vor allem wissen sie, was Demoskopen alles falsch machen und dass deswegen auch ihre Zahlen alle falsch sind.

Der Personenkreis der Demoskopenversteher ist, wie gesagt, variabel, aber es gibt einen gewissen Kernbestand. Über Jahrzehnte hinweg gehörte dazu beispielsweise ein Wuppertaler Mathematikprofessor, der jedes Mal vor den Wahlen vorrechnete, dass die ganze Umfragemethode nicht funktionieren könnte, und der damit stets auf größtes Interesse bei den Massenmedien stieß. Wenn dann die Wahl vorüber war und die Umfragen sich als korrekt erwiesen hatten, verschwand er wieder für vier Jahre aus der Öffentlichkeit, um rechtzeitig vor der nächsten Wahl wieder aufzutauchen. Ältere Kollegen, die das schon jahrzehntelang hatten verfolgen können, nannten ihn deswegen das „Ungeheuer vom Loch Ness.“

Niedere Motive

Verbunden sind die vertieften Kenntnisse der methodischen Unzulänglichkeiten der Umfrageforscher mit mindestens ebenso vertieften Kenntnissen ihrer niederen Motive. So wissen die Demoskopenversteher seit einem halben Jahrhundert genau, dass beim Institut für Demoskopie Allensbach die Veröffentlichung von Parteizahlen stets den strategischen Zielen der CDU/CSU dient: Stehen die Unionsparteien in den Zahlen gut da, ist das ein Versuch, sie hochzujubeln. Stehen sie schlecht da, sollen damit die Anhänger motiviert werden. Auf den Gedanken, dass das Institut vielleicht einfach das veröffentlichen könnte, was es nach bestem Wissen und Gewissen ermittelt hat, kommen sie dagegen nicht. Lebhaft erinnere ich mich an den Wahlkampf 1998, als bei uns die CDU/CSU auffallend schwache Werte hatte. Da durften wir dann in diversen Zeitungen und Zeitschriften lesen, wir hielten die Zahlen absichtlich niedrig, um sie dann kurz vor dem Wahltermin in die Höhe schnellen zu lassen und so den Eindruck einer Dynamik zu erzeugen. Raffiniert! Gerne hätte ich noch mehr über diesen perfiden Plan erfahren, doch nachdem die Wahl vorbei war und sich unsere Zahlen als zutreffend erwiesen hatten, habe ich leider nichts mehr davon gehört.

Auch in diesen Tagen treten in der Öffentlichkeit viele Demoskopenversteher auf. Dieses Mal wissen sie ganz genau, dass die AfD in den Umfragen durchweg zu schlecht abschneidet, weil die Befragten im Interview sich scheuten, ihre wahre Wahlabsicht zu Protokoll zu geben. Man kann diese Behauptung nicht gleich pauschal vom Tisch wischen, sondern erst nach einer Erläuterung: Es hat nämlich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland durchaus immer wieder Fälle gegeben, in denen es ein solches „stilles Potential“ für die eine oder andere Partei gegeben hat, beispielsweise 1980 für die CDU/CSU und 1998 für die Rechtsradikalen, deren Stimmen sich damals aber über mehrere Splitterparteien verteilten, so dass dies für die Zusammensetzung des Bundestags ohne Bedeutung blieb.

„Stille Potenziale“

Seltsam ist allerdings, dass die Demoskopenversteher nie auf den Gedanken kommen, dass die meisten Umfrageforscher keine Anfänger sind. Die Möglichkeit der Existenz solcher „stillen Potentiale“ der Parteien haben die Institute spätestens seit den 70er Jahren im Blick und verfügen auch über die Methoden, sie zu identifizieren und bei der Berechnung der Parteistärken zu berücksichtigen. Wer sich intensiver dafür interessiert, dem sei das von Elisabeth Noelle-Neumann und mir geschriebene Buch „Alle, nicht jeder“ empfohlen (Berlin: Springer 2005). Dort finden sich auf den Seiten 290-296 ausführlichere Angaben zu diesem Thema. Weder 1980 noch 1998 gab es deswegen eine Fehlprognose. Wenn die Umfrageinstitute heute zwischen 8 und 11 Prozent für die AfD ausweisen, dann heißt das, dass dies das wahrscheinliche Ergebnis wäre, wenn heute gewählt würde – selbstverständlich bereits unter Berücksichtigung möglicher verborgener Potentiale. Würden wir diese Zahlen nicht für richtig halten, würden wir sie nicht veröffentlichen. Und sollte sich an den Parteistärken bis zur Bundestagswahl noch etwas ändern, wird man dies an den letzten Umfragen, die in der kommenden Woche veröffentlicht werden, erkennen können.

Sicher: Eine absolute Gewissheit kann es nicht geben. Ob die Umfragen unmittelbar vor der Wahl die Stärke der AfD richtig wiedergeben, wird sich am Wahlabend zeigen. Falls sie dies wider Erwarten nicht tun, diskutiere ich gerne mit den Demoskopenverstehern über die möglichen Ursachen. Doch leider wird das kaum möglich sein, denn dann werden sie wieder verschwunden sein, abgelöst von denen, die hinterher schon immer alles vorher gewusst haben.

Dieser Beitrag wurde zuerst auf dem Blog Salonkolumnisten veröffentlicht.

Bildquelle: pixabay.com 

Schlagwörter:, , , ,

Schreibe einen Kommentar

Send this to a friend