Flug PS752: Clickbait und Spekulationen

7. Februar 2020 • Qualität & Ethik • von

Wie unterschiedlich deutsche Online-Leitmedien über den Abschuss des Passagierflugzeugs nahe Teheran berichtet haben.

Am frühen Morgen des 8. Januar stürzte nahe Irans Hauptstadt Teheran eine Boeing 737-800 der Ukraine International Airlines ab. Schnell war klar, dass es keine Überlebenden geben konnte. „Beim Absturz der Passagiermaschine sind nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Selensky alle Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben gekommen”, schrieb die Süddeutsche Zeitung. Die Zahl der Toten schwankte in den Online-Eilmeldungen der deutschen Leitmedien zwischen „mindestens 170” (Zeit Online) und „176 Menschen” (Der Spiegel). Noch ein Boeing-Unglück nach den Totalverlusten zweier Boeing 737 MAX 8 in den vergangenen zwei Jahren? Scheinbar überzeugt davon, dass das nicht der Fall ist, meldete Bild: „Von Luftabwehrrakete getroffen? Mysteriöser Flugzeugabsturz im Iran – keine Überlebenden”.

Tatsächlich starben beim Absturz des UI-Flugs 752 von Teheran nach Kiew 167 Passagiere und 9 Besatzungsmitglieder. Drei Tage nach dem Vorfall, am 11. Januar, wurde die tatsächliche Absturzursache publik: Die iranischen Revolutionsgarden räumten ein, die ukrainische Maschine mit einer Rakete beschossen und sie so zum Absturz gebracht zu haben.

Berichterstattung über eine Katastrophe

Die folgende Analyse der Berichterstattung deutscher Online-Leitmedien zum Absturz von Flug PS752 bezieht sich auf den Zeitraum vom 8. bis zum 11. Januar, also vom Morgen des Absturzes bis zum Tag, an dem Iran sich zum Abschuss der Maschine bekannt hat. Beobachtet wurden die Überschriften und Teaser der Online-Beiträge auf bild.de, sueddeutsche.de, faz.net, zeit.de und spiegel.de. Dabei wurde – wenn möglich – die Berichterstattung an vier Zeitpunkten pro Tag festgehalten: morgens, mittags, abends und nachts. Die so erstellte Chronologie wurde dann hinsichtlich vier Kriterien, nämlich Zurückhaltung, Behauptung, Wortwahl und Wahrheitsgehalt ausgewertet. Dabei zeichneten sich bestimmte Aspekte besonders stark ab, welche im Folgenden anhand der Nachrichtenfaktoren Negativität, Eindeutigkeit und Relevanz (nach Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge, The Structure of Foreign News, 1965), analysiert werden.

Der Nachrichtenfaktor Negativität greift

Das Unglück von UI-Flug 752 bündelt vor allem zeitbedingt eine Vielzahl relevanter Nachrichtenfaktoren in sich: Konflikt und Schaden, Bedeutung der Ereignisregion und Komplexität der Verlaufsform des Vorfalls. Grund dafür ist die Iran-Krise, die ihre aktuelle Form erst wenige Tage vor dem Absturz durch den Tod Qasem Soleimanis am 3. Januar angenommen hat. Dadurch ist Flug PS752 nicht bloß irgendein weiteres Unglück in der Geschichte der Luftfahrt – weshalb ein technisch bedingter Unfall auch von Anfang an angezweifelt wurde. „Von Luftabwehrrakete getroffen?”, schrieb Bild am Morgen des 8. Januar, während sich die anderen Medien noch mit Spekulationen über die mögliche Absturzursache zurückhielten. Nur auf spiegel.de hieß es: „Unglücksursache soll ein technischer Defekt gewesen sein.”

Bild titelte „Mysteriöser Flugzeugabsturz im Iran” – in Kombination mit der Suggestivfrage „Von Luftabwehrrakete getroffen?” entsteht hier ein negativistischer Bias, dem die Sensationalisierung und voreilige „Begutachtung” des Vorfalls zu Grunde liegt. „In der Spekulativphase wird der gängige Frame der Berichterstattung noch einmal verstärkt”, erklärt Marlis Prinzing, Journalistik-Professorin an der Kölner Hochschule Macromedia und Expertin für Medienethik gegenüber EJO.

Das liege daran, dass es eine Lücke des Nicht-Wissens gibt – und Menschen immer nach Erklärungen suchen. „In den Boulevardmedien geht es immer darum, Emotionen zu wecken”, so Prinzing. An dieser Stelle greifen vor allem Mechanismen wie die Fragezeichentechnik, die bereits Antworten suggeriert. Dieses Vorgehen des Boulevards ist mit dem Begriff „Clickbait” zu umschreiben: Spekulationen, Übertreibung und voreilig gefällte Urteile in Überschriften sollen zu einer erhöhten Interaktion mit dem Artikel beitragen.

„Zu den besonders oft beklagten Realitätsverzerrungen gehört die Fixierung der Medien auf negative Ereignisse”, schrieb Katja Neller schon 1999 in Buch Lokale Kommunikation – Begriffserklärung und Hypothesen. Vor allem Berichterstattung aus Krisengebieten sei nicht selten „verdächtig, verzerrt und bewusst unwahr”, so Neller – vor allem dann, wenn „die berichtenden Medien einer der kriegführenden Seiten zuzurechnen sind”. Marlis Prinzing betont, dass die Berichterstattung im ersten Zeitabschnitt, also während die Absturzursache noch nicht feststand, so subjektiv war, dass sie „gar nicht in eine Richtung” gehen konnte.

Konfliktstruktur ist vermeintlich eindeutig

„Mullah-Regime schießt Flugzeug ab”, hieß es mittags am 10. Januar, also noch bevor Irans Führung den Abschuss offenlegte, auf bild.de. „Abschuss vermutet” (FAZ), „Skepsis angebracht” (SZ) und „Lug und Flug” (Zeit Online) war bereits vorher auf anderen Websites zu lesen. Parallel zur Überschrift „Es war ein Abschuss!” (Bild), hieß es auf sueddeutsche.de „Die Wahrheit wird ans Licht kommen” und auf spiegel.de las man vom „MH17-Déjà-vu”. Wenige Stunden später, am Abend bevor Iran zugab, die Maschine abgeschossen zu haben, kommentierte Bild den Vorfall unter dem Titel „Eine mörderische Tat”. Anhand dieser Beispiele wird erneut eine verzerrte Berichterstattung – ein Bias – deutlich: Die Grenzen des journalistischen Vorsatzes der Unschuldsvermutung werden hier von einigen Medien angetastet, von anderen deutlich überschritten. Der Flugzeugabsturz wird hier vor allem durch Begriffe wie „Mullah-Regime” und „mörderische Tat” (Bild) aber auch „Lug und Flug” (Zeit Online) in das binäre Konzept westliche Welt vs. islamistischer Osten einsortiert.

Die Berichterstattung der Bild geht hier noch einen Schritt weiter und spricht von einer „Russen-Rakete”, die das ukrainische Flugzeug abgeschossen haben soll. „Dass durch einen bestimmten Frame ein Feindbild besonders hervorgehoben wird, kommt häufiger vor”, erklärt Prinzing. „Das konnte man bereits an der Berichterstattung über die NSU-Morde erkennen, die als ‚Dönermorde‘ bezeichnet wurden.” Ein aktuelles Beispiel sei laut Prinzing auch der ‚Megxit‘: „Mit dieser Wortkonstruktion wird Herzogin Meghan die – unbelegbare – Schuld zugewiesen für ihre Übersiedlung gemeinsam mit Prinz Harry von England nach Kanada und den ‚Austritt’ aus den öffentlichen Verpflichtungen gegenüber dem britischen Königshaus.”

Absturz löst Betroffenheit aus

„Die letzten Minuten von X” – wobei X als Variable für beispielsweise Flüge, Schiffe, Raumfähren oder antike Städte steht – hat sich in der Katastrophenberichterstattung inzwischen zu einem feststehenden Ausdruck entwickelt. Dass dieser oft in Headlines zu finden ist, macht nach der Nachrichtenwert-Theorie viel Sinn, schließlich legt er nahe, dass es einen schlimmen, vermutlich verlustreichen Vorfall gegeben haben muss – ein Ereignis, durch das ein oder mehrere Prozesse, beispielsweise ein Flug (und daraus resultierend: Menschenleben) endete oder beendet worden ist. Hier greift das Prinzip der Negativität: Bad news are good news. Auch die Headline „Die letzten Minuten von Flug PS752” (Der Spiegel) funktioniert so.

„Die Wahrheit wird ans Licht kommen”, schrieb am 10. Januar die SZ. Gleichzeitig klammerte man den Vorfall ein: „Was wir wissen – und was nicht”. Damit legt die SZ bereits nahe, dass es wohl kein gewöhnlicher Absturz gewesen sein kann. „Im Nebel des Krieges”, so Der Spiegel, muss der Boeing 737 wohl etwas weitaus tragischeres zugestoßen sein. Bild schien zu diesem Zeitpunkt – am Mittag des 10. Januar, also etwas mehr als zwei Tage nach dem Vorfall – bereits Bescheid gewusst zu haben: „Es war ein Abschuss! Die Beweise”. Wenige Stunden gaben Bild-Journalisten auch bereits Vorschläge für das weitere Handeln der politischen Beteiligten: „Was nach dem Flugzeugabschuss passieren muss”. Das war der Zeitpunkt, ab dem die deutschen Leitmedien einheitlich vorverurteilend berichteten. Doch während einige Medien noch Argumente und Beobachtungen abwogen, sprachen manche bereits ein Urteil.

„Aus der ethischen Perspektive gesehen, gilt zuallererst: Die Wahrheit ist allem übergeordnet”, erklärt Marlis Prinzing. „Zuschreibungen zu machen, die ganz klar Schlagseite haben, geht gar nicht. In Formulierungen wie ‚mörderische Tat’ steckt die Unterstellung eines Vorsatzes und eines aktiven Handelns.” Prinzing betont die Bedeutung der journalistischen Sorgfaltspflicht, die eine Untermauerung der Berichterstattung mit Fakten vorschreibt.

Journalisten haben Verantwortung

Es liegt in der Natur der Medien, unterschiedlich – das heißt: aus verschiedenen Perspektiven, in verschiedenen Wortlauten, mit anderem Fokus – zu berichten, vor allem wenn es um politisch hitzige Themen gibt. Und das ist aus medienwissenschaftlicher Perspektive keinesfalls verwerflich, schließlich lebt Journalismus von der demokratischen Debatte. „Wir können froh sein, dass es verschiedene Bewertungen desselben Ereignisses gibt”, meint Prinzing.

Aber die Journalistik-Professorin hält es für verantwortungslos, Leser über nicht faktenbasierte Schlagzeilen in die Irre zu führen: „Dieser Hang zum Alarmismus ist fatal. Auch das wird jetzt beim Corona-Virus wieder ganz deutlich: Die Leute hören irgendwann nicht mehr hin, wenn die Gefahr wirklich groß ist.” Clickbaiting stelle auch die Glaubwürdigkeit der Journalisten selbst in Frage: „Klickzahlen dürfen nie schwergewichtiger sein als journalistische Normen”, sagt Prinzing.

 

Bildquelle: pixabay.com

 

 

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