Im Windschatten der Casting-Gesellschaft

16. November 2010 • Qualität & Ethik • von

Eine Forscherin, Wiebke Schoon von der Universität Hamburg, sprach euphorisch vom „cosmopolitan turn“, von der kosmopolitischen Wende der Medien- und Journalismusforschung.

Noch vor wenigen Jahren wäre das in der Tat undenkbar gewesen: Rund 1000 Wissenschaftler strömten dieser Tage in der Hansestadt zur “European Communication Conference” zusammen. In 66 Panels und Workshops stellten sie im mörderischen Takt von 12 Minuten Präsentationszeit über vier Tage hinweg ihre Forschungsarbeiten vor.

Ein Dokumentationsband, der über 350 Din A-4-Seiten hinweg die Abstracts der Konferenzbeiträge enthält, tut kund, wie unterschiedlich die Zugänge und Methoden der Forscher sind – aber auch, wie Mediensysteme und Journalismuskulturen in Europa differieren.

Schade nur, dass sich der Journalismus und die Medien selbst so wenig „europäisieren“. Journalisten, die sich begierig auf die Erkenntnisse der Forscher gestürzt hätten, um von ihnen und von ihren Berufskollegen in den Nachbarländern etwas zu lernen, wurden kaum gesichtet. Die Forscher blieben in Hamburg unter sich. Das lässt die europäische Integration weit in die Ferne rücken – denn ohne Kommunikatoren, die voneinander (und von der Forschung!) lernen und damit auch ihre professionellen Standards aneinander angleichen, wird die europäische Integration kaum gelingen.

Wertvolle Information

Immerhin, einzelne Kommunikationsforscher sind medial weithin „sichtbar“. Zu ihnen gehört Miriam Meckel von der Universität St. Gallen. Im deutschen Handelsblatt las sie jüngst den Medienmachern die Leviten: „Der Journalismus muss aufhören, sich über wegbrechende Geschäftsmodelle zu beklagen, und selbstbewusst verdeutlichen, was er kann.“ Ihr zufolge ist ein Zitat, das über Jahre hinweg den Branchendiskurs über Bezahlmodelle für den Journalismus befeuerte, unvollständig: “Information wants to be free, because the cost of getting it out is getting lower and lower all the time,” habe Stewart Brand 1984 auf einer Hackerkonferenz verkündet. Das erführen wir “nun leidvoll seit Jahren“.

Das Statement von Brand habe aber noch einen zweiten Teil, der ganz selten mit zitiert werde: “Information wants to be expensive, because it’s so valuable. The right information in the right place just changes your life.” Ein Wink mit dem Zaunpfahl an alle, die noch immer glauben, hochwertiger Journalismus sei gratis zu haben…

Prominent ist, wer prominent ist

Die meisten Wissenschaftler scheinen übrigens ihr Nischendasein im Schattenreich der Nichtbeachtung durchaus zu genießen. Bevor das Komitee in Stockholm seine Entscheidung kundtut, sind für Journalisten ja selbst künftige Nobelpreisträger regelmäßig „no names“. Viele andere Menschen drängen dagegen mit den absurdesten Tricks ins Rampenlicht öffentlicher Aufmerksamkeit.

Wenn die Tübinger Medienforscher Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke recht haben, sind wir „auf dem Weg in die Casting-Gesellschaft“: In ihr verschmelzen „Image und Ich unauflösbar“; es entstehe „eine Kultur permanenter Selbstdarstellung und der medienförmigen Inszenierung – getrieben durch alte und neue Medien, insbesondere durch das Fernsehen und das Netz“.

Was liegt da näher, als diejenigen, die an vorderster Front dieser Casting-Gesellschaft aktiv sind, genauer unter die Lupe zu nehmen – die Täter, die kommerziell am Selbstdarstellungswahn verdienen, und ihre Opfer, die der Sucht nach öffentlicher Aufmerksamkeit erliegen? Genau das haben Pörksen und Krischke getan – allerdings, und das ist das eigentlich Sensationelle, nicht allein, sondern im Zusammenspiel mit 25 Studierenden, die sich als Interviewpartner ungefähr ebenso viele Promis vorgeknüpft haben. Entstanden ist ein spannendes Buch, das aus allen denkbaren Perspektiven die Selbstdarsteller-Gesellschaft ausleuchtet.

Unter den Interviewten finden sich auch drei Stars, die im Wissenschaftsbetrieb beheimatet sind: der Medienphilosoph Norbert Bolz, der österreichische Medienökonom Georg Franck und der Medienpsychologe Jo Groebel. Letzterer findet es „skandalös“, dass zu den medienpolitischen Debatten in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren kaum eine „substantielle, kontinuierliche Stimme aus der Wissenschaft zu vernehmen war“. Sympathisch immerhin, dass er erst gar nicht den Versuch unternimmt, seine eigene TV-Prominenz auf seine wissenschaftlichen Leistungen zurückzuführen: „Das ist ein selbstreferentielles System: Prominent ist, wer prominent ist.“ Wer sich medienkompatibel äußern könne, werde immer wieder eingeladen.

Lesetipps:

Miriam Meckel, Information muss frei sein – und teuer

Bernhard Pörksen/Wolfgang Krischke (Hrsg.) (2010): Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien, Köln: Halem Verlag

Erstveröffentlichung: Schweizer Journalist Nr. 10/11 2010

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