Neue Zürcher Zeitung, 3. März 2006
Analyse von US-Zeitungen
Der amerikanische Journalismus ist in steigendem Masse fehleranfällig; 61 Prozent der Berichte über Lokales und Features in Zeitungen sind nicht akkurat. Dies ist das irritierende Ergebnis einer Studie, die Scott R. Maier von der University of Oregon jetzt im «Journalism and Mass Communication Quarterly» (Vol. 82, 2005, S. 533-551) vorgelegt hat. Dazu wurden insgesamt 4800 Artikel aus 14 verschiedenen Zeitungen denjenigen Personen und Institutionen vorgelegt, die im jeweiligen Beitrag als wichtigste Quelle genannt waren.
Die Fehlerrate war noch nie so hoch, nachdem vor siebzig Jahren Mitchell Charnley in einer ersten bahnbrechenden Studie mit der «Accuracy- Forschung» begonnen und eine Fehlerquote von damals 46 Prozent festgestellt hatte. In mehreren ähnlichen Forschungsprojekten, die jeweils in mehrjährigem Abstand seit Mitte der sechziger Jahre durchgeführt wurden, oszillierte die Fehlerquote zwischen 40 und 60 Prozent.
Einschränkend zugunsten der Redaktionen ist allerdings anzumerken, dass Quellen manchmal zu sehr ins Geschehen involviert sind, um den Wahrheitsgehalt und die Akkuratesse der Berichterstattung hinreichend unabhängig und somit zutreffend zu bewerten.
Eine verlässliche Trendaussage lassen die erhobenen Daten gleichwohl zu, und sie sollten Journalisten auch in Europa nachdenklich stimmen. Unseres Wissens gibt es hier weder vergleichbare Studien – noch, wie in den USA, eine Tradition im Journalismus selbst, Fehler der eigenen Glaubwürdigkeit halber regelmässig und freiwillig zu berichtigen. Wo eine solche Praxis fehlt und folglich Irrtümer eher auf die leichte Schulter genommen werden, ist es zumindest wahrscheinlich, dass auch mehr Fehler begangen werden.
Am Ende seiner Analyse zitiert Maier allerdings seinen Fachkollegen und Namensvetter Phil Meyer: «Eine Presse, die keine Fehler begeht, ist eine Presse ohne Biss.» Dieses Statement hat besonderes Gewicht, weil Meyer vor Jahren mit einem Buch über Präzisionsjournalismus («Precision Journalism») einiges Aufsehen erregt hat. Das ist indes keine Generalabsolution. Denn der Umkehrschluss gilt nicht: Mehr Mängel in der Berichterstattung garantieren gewiss nicht mehr journalistischen Biss.
Die entscheidende Frage ist und bleibt, wie viele Fehler tolerabel sind, ohne dass der Journalismus weiter an Glaubwürdigkeit einbüsst. Nimmt man die von Maier ermittelte Fehlerquote zum Massstab, reicht jedenfalls die tägliche Korrekturspalte – wie sie sich inzwischen in den meisten US-Zeitungen findet – nicht mehr aus. Es bedürfte dann schon eher einer ganzen «Corrections»-Seite, wenn Berichtigungen im Blatt mehr sein sollen als nur Kosmetik, mit der eben nur mehr oder minder zufällig der eine oder andere Fehler korrigiert wird. Zu befürchten ist somit, dass auch in den USA die grosse Zahl der Irrtümer unbeanstandet und damit eben auch ohne Berichtigung bleibt.