Journalismus und Zusammenhalt: eine komplexe Beziehung

28. Februar 2022 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Wie hängen Journalismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt zusammen? Eine Studie des Hans-Bredow-Instituts untersucht, wie Medienschaffende und weitere Fachleute zu dieser Frage stehen und wie Medien ihrer Meinung nach „zusammenhaltssensibel“ arbeiten könnten.

Den Vorwurf, sie würden gesellschaftliche Gräben durch oberflächliche und sensationsgetriebene Berichterstattung vertiefen, hören Medienschaffende regelmäßig. In Kritik wie dieser steckt offensichtlich die Vorstellung, dass Journalismus gesellschaftlichen Zusammenhalt prinzipiell schwächen – oder auch stärken – kann. Und für viele zählt es tatsächlich zur Sozialverantwortung des Journalismus, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen bzw. ihn wenigstens nicht zu beeinträchtigen. Allerdings sind der Journalismus und das Konzept des sozialen Zusammenhalts äußerst vielschichtige Phänomene – im öffentlichen Diskurs ebenso wie in Politik und Wissenschaft. Deshalb wollten wir empirisch herausfinden: Wie sehen es Medienschaffende und andere relevante Beteiligte selbst? Sollte Journalismus den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern? Oder nur darauf achten, dass er ihn nicht gefährdet? Oder braucht der Journalismus sich überhaupt nicht darum zu kümmern?

Die Studie ist Teil des Forschungsprojekts „Was Journalisten wollen und sollen“, das sich mit der Transformation der Journalismus/Publikum-Beziehung und ihrer Bedeutung für gesellschaftlichen Zusammenhalt befasst.

Gruppendiskussionen mit Fachleuten

Um Antworten auf unsere Fragen zu finden, veranstalteten wir zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 insgesamt vier virtuelle Workshops mit jeweils fünf bis sechs Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen. Hierbei war natürlich die Sichtweise von Medienschaffenden relevant: Inwiefern denken sie bereits über mögliche Auswirkungen ihrer Arbeit auf den Zusammenhalt nach? Halten sie die in den Workshops entwickelten Ideen für eine „zusammenhaltssensible Berichterstattung“ für im Alltag umsetzbar? Daneben wollten wir aber auch die Sichtweisen von Menschen berücksichtigen, die sich explizit und intensiv mit den sozialen Gräben in unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Wir luden deshalb Personen aus der „Zusammenhaltspraxis“ ein – etwa Integrationsbeauftragte und Vertretungen von Minderheiten – und zudem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zusammenhaltsrelevante Forschung betreiben – etwa in der Sozialpsychologie oder Philosophie.

Aus den Ergebnissen dieser Diskussionen ist ein Impulspapier entstanden, das sich vor allem an die journalistische Praxis richtet: Es stellt die vielfältigen Perspektiven der verschiedenen Beteiligten dar und bündelt die in den Diskussionen genannten Empfehlungen für Medienschaffende, die sich mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und der Rolle des Journalismus für ihn beschäftigen möchten.

Journalismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt: Wie hängen sie zusammen?

Wie Journalismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt zusammenhängen, wird von den Expertinnen und Experten durchaus unterschiedlich gesehen. Konsens besteht jedoch darüber, dass ein starker gesellschaftlicher Zusammenhalt prinzipiell ein wünschenswerter Zustand ist, zu dem auch Journalismus beitragen kann. Ob dies aber auch ein „echtes“ Ziel von Journalismus sein sollte, bezweifeln einige Teilnehmende. In der Praxis sei die „Logik des Journalismus“, u. a. aufgrund ökonomischer Zwänge, eher auf Nachrichten ausgerichtet, „die großes Spaltpotenzial haben“. Zudem sahen sie den Zusammenhalt bedroht durch die zunehmende Radikalisierung an den Rändern der Gesellschaft, Hate Speech und Desinformation in sozialen Medien, „reale“ soziale Ungleichheiten und das Fehlen „geschützter Räume“, in denen sich unterschiedliche soziale Gruppen begegnen und ihre je eigenen Sichtweisen kennenlernen können.

Dem Journalismus schreiben die Teilnehmenden gleich mehrere Aufgaben zu: Er solle helfen, „die Welt und die Menschen und alles, was passiert, zu verstehen“, „informieren, analysieren, einordnen“, relevantes Wissen erkennen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen, „Gesellschaftsgestalter sein“, aber auch die „Stimme, die verneint“, also etwa durch Widerspruch zu (Selbst-)Reflexion anregen.

Wie könnten Medien „zusammenhaltssensibel“ berichten?

In den Gruppendiskussionen diskutierten die Expertinnen und Experten vielfältige Verbindungen zwischen Journalismus und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Diese unterteilen wir in drei Dimensionen, die jeweils verschiedene Anhaltspunkte für einen „zusammenhaltssensiblen Journalismus“ aufzeigen:

Unter der „Erreichbarkeit der Gesellschaft“ lassen sich alle Aspekte bündeln, die damit zu tun haben, dass Teile der Bevölkerung nicht mehr von journalistischen Medien erreicht werden. Hier wurde etwa die zunehmende Ausdifferenzierung digitaler Plattformen genannt, die ambivalent bewertet wurde: Sie trage zwar zu einer Fragmentierung des Publikums bei, biete aber auch die Chance, bestimmte Personengruppen (wieder) zu erreichen – sofern Medienschaffende die sozialen Medien „authentisch“ nutzten. Auf Seiten des Publikums fehle es bei vielen Themen häufig an Vorwissen, was eine weitere Hürde dafür sei, dass journalistische Angebote sie erreichten. Im Hinblick hierauf wurde u. a. vorgeschlagen, leichter verständliche Sprache zu verwenden und Ereignisse mittels Hintergrundinformationen genauer einzuordnen.

In der Dimension der „Abbildbarkeit der Gesellschaft“ fassen wir Aspekte zusammen, die die Herausforderungen einer angemessenen Repräsentation sozialer Vielfalt und Komplexität durch den Journalismus betreffen. Die Teilnehmenden kritisierten, dass in der Berichterstattung Erfahrungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, wie die der gut gebildeten Mittelschicht, im Fokus stünden und andere dagegen kaum beachtet würden. Dies schlage sich in Vorurteilen und Misstrauen gegenüber den Medien nieder, weil sich ganze Bevölkerungsgruppen medial nicht repräsentiert fühlten. Deshalb solle der Journalismus verstärkt die gesellschaftliche Perspektivenvielfalt abbilden und die Sichtweisen von Menschen unterschiedlicher politischer Orientierung und sozioökonomischer Verortung abdecken, sodass „sich alle in den Medien wiederfinden“. Gleichzeitig solle der Journalismus aber auch häufiger Gemeinsamkeiten von Menschen aufzeigen, über konstruktive Lösungsansätze berichten und so „eine Form von Gemeinschaftsgefühl herstellen“.

Die dritte Dimension bildet die „Dialogfähigkeit der Gesellschaft“. Damit ist gemeint, dass nicht alle sozialen Gruppen und Gesellschaftsbereiche die gleichen Möglichkeiten haben, am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Um dies zu ermöglichen, müsse die „digitale Informations- und Nachrichtenkompetenz“ des Publikums gefördert werden. Ein weiterer wichtiger Faktor sei die Erhöhung der Diversität in Redaktionen und Medienorganisationen: besonders Menschen aus Einwanderer- und Arbeiterfamilien seien hier unterrepräsentiert, was sich auch in der mangelnden Berücksichtigung dieser Gruppen und ihrer Perspektiven in journalistischen Inhalten widerspiegele. Einige Expertinnen und Experten wünschen sich außerdem mehr Debattenräume, in denen Menschen mit verschiedenen Meinungen zivilisiert diskutieren können.

Nicht „sollen“, aber „können“: Konturen eines zusammenhaltssensiblen Journalismus

Im Rahmen der vier Gruppendiskussionen haben die Expertinnen und Experten auch diskutiert, wie Medienschaffende – wenn sie es denn für richtig halten – möglichst „zusammenhaltssensibel“ arbeiten können. Dieser Begriff wurde von uns gewählt, weil er am ehesten „neutral“ klingt und damit nicht unbedingt impliziert, dass Journalismus für die Förderung von Zusammenhalt zuständig sei. Vielmehr verweist er darauf, dass Journalismus durchaus den Zusammenhalt stärken oder schwächen kann und Medienschaffende ein Bewusstsein für diese Wirkung ihrer Arbeit entwickeln können. So wurde er auch von den Expertinnen und Experten verstanden.

Insgesamt verdeutlichen die Diskussionen, dass sich Journalismus in einem Spannungsfeld zwischen der Darstellung gesellschaftlicher Komplexität und ihrer Reduktion befindet. Beide Aspekte scheinen auf die eine oder andere Weise auf gesellschaftlichen Zusammenhalt „einzuzahlen“ und müssen dementsprechend miteinander „austariert“ werden. Die Berücksichtigung der drei Dimensionen der Erreichbarkeit, Abbildbarkeit und Dialogfähigkeit der Gesellschaft kann helfen, Journalismus „zusammenhaltssensibel“ zu betreiben, sie liefert jedoch keine direkten Handlungsempfehlungen und erst recht keine einfache Einheitslösung. So ist es zum Beispiel schlicht unmöglich, die gesellschaftliche Komplexität und Vielfalt in all ihren Facetten darzustellen – jede Form journalistischer Darstellung bleibt ein Ausschnitt. Stattdessen müssen Medienschaffende neuralgische Themen, Praktiken und Organisationsstrukturen in der eigenen Redaktion kontinuierlich reflektieren.

Wiebke Loosen, Julius Reimer & Verena Albert (2021): Zusammenhaltssensibler Journalismus. Ein Impulspapier (Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts | FGZ Resultate Nr. 60). Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Standort Hamburg: Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut. PDF herunterladen unter:  https://doi.org/10.21241/ssoar.75462

Beitragsbild via Diogo Nunes/unsplash.com.

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