Leichen auf Seite Eins?

30. April 2013 • Qualität & Ethik • von

Die Berichterstattung über Katastrophen, Kriege und Terror ist Teil unserer Medienwelt – sowohl in Form von Texten als auch in Form von Bildern.

Aber gerade in Zeiten, in denen die Konkurrenz unter und der Zeitdruck auf Journalisten wächst und Presseagenturen schon kurz nach erschütternden Ereignissen eine Vielzahl an Fotos an die Redaktionen in aller Welt schicken, stellt sich für Medienakteure die Frage: Welche Bilder von Toten und Verletzten kann ich, welche sollte ich und welche darf ich auf keinen Fall als verantwortungsvoller Redakteur veröffentlichen?

Antworten darauf gibt eine Diplomarbeit am Institut für Journalistik der TU Dortmund formuliert, in der auch die Bilderveröffentlichungspraxis überregionaler Qualitätszeitungen in Deutschland (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt und taz) und in Spanien (ABC, El Mundo, El País und La Razón) analysiert wurde.

In einem quantitativen und einem qualitativen Analyseteil wurde die Berichterstattung über 25 ausgewählte Ereignisse zwischen März 2011 und Mai 2012 untersucht – darunter der Tsunami in Japan (März 2011), der Tod Gaddafis (Oktober 2011) und die Angriffe auf die syrischen Städte Damaskus und Hula (Mai 2012).

Das Hauptergebnis ist, dass die deutschen Zeitungen deutlich weniger Gewaltfotos veröffentlichten  als die spanischen Blätter: In den 100 untersuchten deutschen Zeitungsausgaben wurden 27, in den 100 untersuchten spanischen 87 entsprechende Bilder gezählt; 22 Prozent der deutschen und 49 Prozent der spanischen analysierten Ausgaben beinhalteten mindestens ein Gewaltfoto.

Der Autor der Studie definiert Gewaltfotos als Bilder von toten oder verletzten Menschen und von abgetrennten Körperteilen sowie Fotos, die darauf schließen lassen, dass die abgebildete Person unmittelbar nach der Aufnahme getötet oder verletzt wurde.

Der qualitative Analyseteil zeigt, dass die FAZ und die SZ nur sehr selten Gewaltfotos veröffentlichten, während die ABC, El País, El Mundo und La Razón oft auf diese zurückgriffen – wiederholt auch unangemessen sensationell. Die taz und Die Welt druckten zwar häufiger als die FAZ und die SZ Gewaltfotos ab, präsentierten sie aber weniger sensationell als die spanischen Zeitungen.

So zeigten nach dem Tod Gaddafis weder die FAZ noch die SZ Bilder des toten Diktators. Die spanischen ausgewählten Zeitungen zeigten sein blutüberströmtes Gesicht auf dem Titel und im Blatt gleich mehrmals. Die Welt und die taz zeigten nur im Innenteil der Zeitung  Bilder des toten Gaddafi, und zwar im kleinen Format und zusammen mit älteren Bildern von ihm.

Die Entscheidung für oder gegen die Veröffentlichung eines Fotos muss von Einzelfall zu Einzelfall getroffen werden. Bilder, die tote oder verletzte Menschen zeigen, können beim Betrachter unterschiedliche Reaktionen hervorrufen: Zum einen können die Gewaltfotos den Leser wachrütteln, eine schreckliche Wirklichkeit auch visuell vermitteln und an sein Verantwortungsbewusstsein zur Veränderung appellieren.

Zum anderen lassen sie in erhöhter Frequenz den Betrachter abstumpfen, befriedigen die Sensationsgier mancher Rezipienten und können traumatisierte Opfer und Angehörige unkontrolliert mit dem Geschehen erneut konfrontieren.

Ein im Rahmen der Diplomarbeit erstellter Leitfaden soll Bildredakteuren bei der Entscheidung für oder gegen ein Gewaltfoto helfen und Ansatzpunkte zur medienethischen Selbstreflexion bieten. Die 20 Regeln lauten:

  • Der Journalist sollte vor der Veröffentlichung gewährleisten, dass das Foto eine tiefergehende Information enthält, dass es eine berichtenswerte Situation oder einen Missstand beschreibt und nicht nur als Selbstzweck, zur Unterhaltung oder aus rein optischen Gründen zum Abdruck ausgewählt wird.
  • Der Journalist sollte vor der Veröffentlichung prüfen, ob es möglich ist, die Information des Fotos textlich in ähnlich eindringlicher Weise zu vermitteln und so auf eine Veröffentlichung verzichtet werden kann.
  • Der Journalist sollte versuchen, diejenigen Bilder zu veröffentlichen, die die Leser emotional am meisten ansprechen und am wenigsten schockieren. Anstelle des expliziten Fotos einer Kinderleiche kann beispielsweise auch das Bild blutverschmierter Kinderkleidung sehr eindringlich sein, ohne übermäßig abzuschrecken.
  • Der Journalist sollte bei der Bildberichterstattung dieselben Maßstäbe an Gewaltfotos legen, unabhängig davon, ob sie aus Europa oder von anderen Kontinenten stammen. So werden rassistische Vorurteile über fremde Länder und ferne Kulturen vermieden.
  • Der Journalist sollte von Fall zu Fall entscheiden und pauschale Verhaltensregeln wie „Keine Leichenfotos in der Zeitung“ vermeiden. Der Tod und die öffentliche Diskussion darüber sind Teil einer aufgeklärten Gesellschaft und dürfen in den Medien nicht tabuisiert werden.
  • Der Journalist sollte gewährleisten, dass sein Medium ausreichend Raum zur Verfügung stellt, um ein Gewaltfoto textlich einzuordnen und zu kommentieren. Steht dieser Raum nicht zur Verfügung, sollte auf die Veröffentlichung des Bildes verzichtet werden.
  • Der Journalist sollte die Bildauswahl bei Gewaltfotos textlich begründen (dafür reicht im Allgemeinen die Bildunterzeile nicht aus) und – wenn möglich – an angemessener Stelle die Leser vor der Härte des Fotos warnen.
  • Der Journalist sollte sich immer darüber im Klaren sein, dass sich der Schockeffekt und die Appellfunktion von Gewaltfotos abnutzen, je mehr Bilder dieser Art veröffentlicht werden. Dementsprechend sollte er sicherstellen, dass der Abdruck im vorliegenden Fall notwendig und sinnvoll ist.
  • Der Journalist sollte nicht aus reinen Jugendschutzgründen oder aus Angst vor Ablehnung der Leser auf eine Veröffentlichung verzichten, die er für bildethisch angemessen hält.
  • Der Journalist sollte sich in seiner Begründung für oder gegen die Veröffentlichung eines Gewaltfotos ganz auf das Foto und seinen Kontext konzentrieren und sich nicht von der Veröffentlichungspraxis anderer Medien beeinflussen lassen.
  • Der Journalist sollte sich darüber im Klaren sein, dass Fotos in einer gedruckten Zeitung oft stärker wirken als im Internet. Er sollte über die Möglichkeit nachdenken, ein schockierendes Foto nur auf der Internetseite seines Mediums zu veröffentlichen und es in der gedruckten Ausgabe anzukündigen. So gibt er den Lesern die Möglichkeit, das Foto (nicht) zu sehen.
  • Der Journalist sollte bei Fotos von Terroranschlägen abwägen zwischen dem Informationsinteresse des Publikums und der Pflicht, die Terroristen bei ihrer Suche nach Aufmerksamkeit nicht zu unterstützen.
  • Der Journalist sollte besonders vorsichtig im Umgang mit älteren Gewaltfotos sein. Je länger ein Ereignis zurückliegt, desto weniger vertretbar ist die Veröffentlichung von schockierenden Aufnahmen. Abgebildete Personen oder ihre Angehörige können durch die erneute unkontrollierte Konfrontation psychischen Schaden erleiden.
  • Der Journalist sollte sich im Zweifelsfall immer mit weiteren Redaktionsmitgliedern beraten. Er darf dabei nicht vergessen, dass er und seine Kollegen nicht das Durchschnittspublikum repräsentieren und dementsprechend eine andere Hemmschwelle in Bezug auf Gewaltfotos haben.
  • Der Journalist sollte auch das gestalterische Umfeld des Gewaltfotos im Blick haben: Leser reagieren besonders sensibel auf ein schockierendes Bild, wenn die Überschrift eines benachbarten Artikels oder die Aussage einer Anzeige auf derselben Seite ungewollt auf das Gewaltfoto bezogen werden kann.
  • Der Journalist sollte das Foto in keinster Weise sensationslüstern präsentieren: Statt es groß auf der Titelseite zu veröffentlichen, kann es auch klein im Innenteil der Zeitung abgebildet werden; anstatt mehrere Bilder desselben Motivs zu zeigen, sollte er eine aussagekräftige Aufnahme heraussuchen.
  • Der Journalist sollte überprüfen, ob abgebildete Opfer identifizierbar sind und zumindest ihre Gesichter unkenntlich machen. Dies gilt besonders für Fotos von Toten in Rücksichtnahme auf die Verstorbenen und ihre Angehörigen.
  • Der Journalist sollte sicherstellen, dass die Menschenwürde der abgebildeten Personen gewahrt bleibt. Dies gilt besonders, wenn sie identifizierbar sind.
  • Der Journalist sollte bei Selbsttötungen keine Fotos des Verstorbenen veröffentlichen.
  • Der Journalist sollte zum Dialog mit den Lesern bereit sein und Leserbriefe zum Abdruck des umstrittenen Fotos veröffentlichen.

 

Balzert, Simon P. (2013): Leichen auf Seite Eins? Gewaltfotos und Bildethik: deutsche und spanische Qualitätszeitungen im Vergleich. Saarbrücken: AV Akademikerverlag.

 

Bildquelle: Gerd Altmann / pixelio.de

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