Allenthalben werden Umfragen als Beleg für die Erfolgschancen von Martin Schulz angeführt. Doch die sagen weniger über die Qualitäten des Kandidaten aus als über den Charakter der Berichterstattung.
Man stelle sich vor, ein Forscher will etwas über die Flugangst der Menschen erfahren. Er bereitet einen Fragebogen vor. Als er mit der Untersuchung beginnen will, gibt es einen katastrophalen Flugzeugabsturz, der die folgenden Tage die Medienberichterstattung beherrscht. Unmittelbar danach beginnt der Forscher mit den Interviews. Die Untersuchung ergibt, dass ungeheuer viele Menschen Angst vor dem Fliegen haben. Daraufhin rufen Journalisten ganz erstaunt beim Forscher an und bitten ihn zu erläutern, warum es wohl so viel Flugangst im Land gibt.
Klingt absurd? Ist es auch. Und dennoch ist das Beispiel nicht weit von der Realität entfernt, wie man in den letzten Wochen seit der Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD erleben konnte. An dieser Stelle sollte ich sicherheitshalber klarstellen, dass es mir fern liegt, Martin Schulz mit einem Flugzeugabsturz zu vergleichen. Doch das Wechselspiel zwischen Forschern und Medien war das gleiche wie bei dem beschriebenen Beispiel, und es war auch nicht weniger absurd.
Am 24. Januar gab der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bekannt, dass er auf die Kanzlerkandidatur und den Parteivorsitz verzichten werde, und schlug Martin Schulz zum Nachfolger vor. Es folgten Martin-Schulz-Jubelfestspiele in vielen führenden Massenmedien. Die Süddeutsche Zeitung zeigte am 26. Januar einen strahlenden Schulz auf dem Titelbild. Die Hauptschlagzeile lautete: „Schulz setzt auf Sieg.“ Die Zeit schrieb, noch relativ zurückhaltend, ebenfalls auf der Titelseite: „Aufschlag SPD“. Der Focus sprach von „Merkels gefährlichstem Gegner“ und das Titelbild des Spiegels zeigte Schulz mit einem heiligenscheinartigen Strahlkranz um den Kopf. Dazu – witzig, witzig – die Schlagzeile „Sankt Martin.“ Die Berichterstattung war so intensiv, dass sie kurzzeitig sogar die Artikel über Donald Trump an die Seite drängte. Und das will etwas heißen, denn der amerikanische Präsident fasziniert die Redaktionen anscheinend derart, dass sie selbst die Frage, ob er einen Bademantel besitzt oder nicht, für schlagzeilenwürdig halten.
Als dann die erste große Welle der Berichterstattung durch die Blätter gerauscht war, wurde die Umfrageforschung ins Spiel gebracht: Drei Tage nach der Nominierung von Schulz tauchten die ersten – von Medien beauftragten – Umfrageergebnisse auf. Die zeigten – Überraschung -, dass die Zahl der SPD-Anhänger gestiegen war. Seitdem bekomme ich täglich Anrufe von Journalisten, die mich bitten, ich möchte doch mal erklären, warum die SPD in den Umfragen plötzlich stärker wird. Ja, warum wohl?
In Allensbach nennen wir solche Umfragen Medienecho-Demoskopie. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die Parteizahlen für die SPD unmittelbar nach einem derartigen medialen Trommelfeuer nicht gestiegen wären. Doch das hinderte die Redaktionen nicht daran, die Umfragen, die das Echo ihrer eigenen Berichterstattung dokumentierten, wiederum zum Anlass für weitere Berichterstattung zu nehmen: Der Stern stellte Schulz am 16. Februar auf dem Titelblatt als „Den Eroberer“ vor, der Spiegel zeigte am 11. Februar in einer Bildmontage, wie Schulz scheinbar mit dem Finger eine Merkel-Statue umstößt. Die Schlagzeile dazu lautete „Merkeldämmerung – kippt sie?“ So schließt sich der Kreis, und es entsteht ein sich selbst nährendes System aus Berichten und oberflächlichen Blitzumfragen, die sich umeinander drehen und wie ein Spielzeug-Propeller vom Boden der Wirklichkeit abheben.
Es ist für Umfrageforscher ungeheuer schwierig, sich diesem Spiel zu entziehen, wobei der Fall Martin Schulz noch harmlos ist. Richtig ärgerlich wird es, wenn man merkt, dass man in einer großangelegten Kampagne als Erfolgskontrolle und gleichzeitig als Kampagneninstrument missbraucht werden soll. Zuletzt war das im Skandal um Christian Wulff der Fall: Zunächst arbeitete man wochenlang daran, den Ruf des Bundespräsidenten zu ruinieren. Dann gab man Umfragen in Auftrag, die natürlich zeigten, dass das Ansehen Wulffs in der Bevölkerung gelitten hatte. Diese Ergebnisse wurden dann wiederum ausführlich dargestellt und als Beleg für die angeblich geringe Glaubwürdigkeit Wulffs angeführt. So produzierten die beteiligten Medien selbst die gewünschte „Nachricht“ und konnten dem Opfer der Diffamierungskampagne auch noch die Schuld für deren Folgen in die Schuhe schieben.
Der auf Medienforschung spezialisierte Fachjournalist Bernd-Jürgen Martini hat einmal zwischen „ergebnisorientierter“ und „erkenntnisorientierter“ Demoskopie unterschieden. „Ergebnisorientierte“ Demoskopie, also Umfragen, die nicht zum Zweck des Erkenntnisgewinns erhoben werden, sondern um ein bestimmtes zu erwartendes Ergebnis zu dokumentieren, sind im schlimmsten Fall, wie bei Wulff, ein höchst unanständiger Missbrauch der Methode, von dem man sich als Umfrageforscher so fern wie nur irgend möglich halten muss. Dienen sie, wie im Fall Schulz, in erster Linie dazu, marktschreierische Schlagzeilen zu produzieren, sind sie „nur“ weitgehend nutzlos. Jedenfalls lernt man aus ihnen nichts Neues.
Man kann heute noch nicht sagen, ob Schulz ein starker Kandidat ist. Es spricht einiges dafür, dass er mehr Wähler anziehen könnte als seine Vorgänger Steinmeier und Steinbrück, doch erst in ein, zwei Monaten, wenn sich die Berichterstattung wieder normalisiert hat, wird man etwas klarer sehen können. Wer wissen will, ob die Menschen normalerweise Angst vor dem Fliegen haben, darf sie nicht unmittelbar nach einem Flugzeugabsturz dazu befragen. Und wer wissen will, ob Martin Schulz ein erfolgreicher Spitzenkandidat sein kann, darf sich nicht auf Umfragen stützen, die unmittelbar nach einer Welle der Jubelberichterstattung über ihn durchgeführt wurden.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf dem Blog Salonkolumnisten veröffentlicht.
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Schlagwörter:Demoskopie, Kanzlerkandidat, Martin Schulz, Medienwirkung, SPD, Umfrageforschung