Über die Nähe der Demoskopie zum Orakel von Delphi
„Das Medienvertrauen ist so hoch wie seit 15 Jahren nicht mehr“, gaben vor ein paar Tagen die Medienwissenschaftler Kim Otto und Andreas Köhler aus Würzburg kund. Sie bezogen sich auf eine Meinungsbefragung des EU-finanzierten „Eurobarometer“, eine Einrichtung, die periodisch in den Mitgliedstaaten der EU das Meinungsbild der Einwohner zu verschiedenen Themen abfragt.
Im Bericht der zwei Forscher heißt es weiter: „Im Jahr 2016 vertrauen 55,7 Prozent der Deutschen der Presse, nur 38,8 Prozent misstrauen ihr. Gegenüber 2015 konnte die Presse das in sie gesetzte Vertrauen um zehn Prozent steigern. Das höchste Medienvertrauen in Deutschland genießt auch im Jahr 2016 der Hörfunk – ihm vertrauen 67,8 Prozent der Menschen in Deutschland.“
55,7 und 67,8!! „Den deutschen Medien ist es gelungen, das in sie gesetzte Vertrauen zu stärken und weiter auszubauen“, kommentierte der Bayerische Rundfunk. Die Branche jubelt, die Journalisten sind erleichtert: Alles wird gut! Denn bislang lieferten andere Erhebungen ein ganz anderes Bild: „Nur gut die Hälfte (52 Prozent) hält die Informationen in den deutschen Medien alles in allem für glaubwürdig. Rund 42 Prozent haben Zweifel an der Glaubwürdigkeit. Der Grad an Vertrauen in die unterschiedlichen Medien ist allerdings höchst unterschiedlich,“ ergab eine Infratest-Repräsentativerhebung im Oktober 2015. Ähnliche Befunde publizierte das Demoskopische Institut Allensbach im Oktober 2016. Und praktisch zeitgleich mit der frohen Botschaft der Würzburger Kollegen berichtete der Branchendienst Meedia über eine niederschmetternde Studie, an der „fast eine Million junger Menschen zwischen 18 und 34 Jahren aus 35 Ländern Europas beteiligt” gewesen seien. Ergebnis: „Nur 17 Prozent sagen europaweit, dass sie den Medien ‘mehr oder weniger vertrauen’. Dem stehen europaweit 39 Prozent gegenüber, die ‘überhaupt kein Vertrauen’ in die Medienlandschaft aufbringen und 41 Prozent, die ihr zumindest skeptisch gegenüberstehen.”
Man ist verwirrt. Ein Blick auf die Eurobarometer-Daten der letzten Jahre zeigt, wenn es um Vertrauens-Werte geht, eine volatile Schwankungsbreite. Wie kann das sein? Pendelt das Vertrauen wie die Bierlaune? Aus zahlreichen Studien etwa über die Glaubwürdigkeit journalistischer Medien weiß man jedoch, dass die abgefragten Einstellungen in der Bevölkerung vergleichsweise stabil sind. Und wenn sie sich ändern, dann über längere Zeiträume oder in Bezug auf ein anderes Ereignisthema. Es taucht also die Frage auf, was die Eurobarometer-Daten eigentlich abbilden.
Jeder kann sich denken, was er will
Man kann zunächst die Methodik in Zweifel ziehen. Gefragt wurde europaweit, ob man „dazu neigt”, der vom Interviewer genannten Einrichtung (pauschal: Presse, Radio, Fernsehen) zu vertrauen oder nicht zu vertrauen. Was ist mit „Presse“ überhaupt gemeint? Die Bild-Zeitung? Gala? Die Frankfurter Allgemeine? Landlust? Die Apotheken-Umschau? Und „Fernsehen“: Gehört auch der „Tatort“ dazu? auch „Hart aber fair“ und „Markus Lanz“ – oder nur die Tagesschau? Jeder Antwortende kann sich denken, was er will. Demnach haben die Antwortenden ganz Unterschiedliches im Kopf, wenn es um das „Vertrauen in die Medien“ geht. Hinzu kommt, dass jedes Umfrage-Institut seine eigene Art der Fragebogenformulierung pflegt und darum Vergleiche zwischen verschiedenen Erhebungen doppelt heikel sind.
Man könnte dem entgegenhalten, dass wenigstens das Eurobarometer nun schon seit 16 Jahren mit einer repräsentativen Stichprobe der Erwachsenenbevölkerung jedes Jahr die immer gleichen Fragen stellt. Auch wenn der Fragebogen einen systematischen Fehler in Form der irreführenden Fragen enthält, könnten die Antworten im Längsschnitt verglichen und interpretiert werden. Haben Ende 2016 wirklich viel mehr Menschen den Interviewern gesagt, dass sie der Presse vertrauen als ein Jahr zuvor?
Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, zumal das für Deutschland zuständige Umfrageinstitut gut beleumdet ist. Und doch ist die Überschrift, mit der die Branche diese Nachricht feierte, aus der Luft gegriffen: „Vertrauen in Medien so hoch wie lange nicht.“ Denn das Problem steckt ganz woanders. Meine These lautet, dass diese Daten gar nicht abbilden, was sie behaupten. Es handelt sich um Zufallsbefunde, die mal so, aber auch ganz anders ausfallen können.
Trau, schau, wem?
Um dies zu begründen, ist ein kurzer Blick auf das angezeigt, was unter dem Wort „Vertrauen“ verstanden wird. Im Alltagsverständnis bezeichnet dieses Wort eine psychisch verankerte Einstellung anderen Menschen gegenüber. Man schenkt jemandem Vertrauen, weil jener durch sein Verhalten (oder Handeln) als zuverlässig erscheint. Die Psychologie in der Tradition von Erikson spricht vom Erwerb der Fähigkeit, Vertrauen zu empfinden, und führt sie auf frühkindliche Prägungen zurück: Als das Baby die Erfahrung machte, dass es regelmäßig gefüttert wurde und dass die fürsorglich-schützende Bezugsperson da war, als es sich ängstigte oder Schmerzen erlitt. So lernt das Kind aus Erwartungserfüllung, dass es mit dieser Zuwendung auch in Zukunft rechnen darf, wenn es sich seinerseits an die Regeln hält, unter denen es Zuwendung erhielt. Vertrauen wächst, weil sich nach Maßgabe positiver Zuwendungserfahrungen die ängstigende Ungewissheit, ob es auch in Zukunft so sein wird, auflöst.
In der sozialpsychologischen Theorie gilt als gesichert, dass dieser Lernprozess Voraussetzung für Selbstvertrauen und weiter für Bindungsfähigkeit ist. Mag sein, dass auch angeborene Eigenschaften eine Rolle spielen, ob und in welchem Umfang sich Vertrauensfähigkeit entfaltet. Eine maßgebliche Rolle spielt indessen die Erfahrung, dass im Rahmen einsehbarer Spielregeln die auf Zukünftiges gerichteten Erwartungen eingelöst werden, auch wenn nicht immer und nicht von allen. Darum findet noch ein weiterer, durch Erwartungsenttäuschung genährter Lernprozess statt: Vertrauen ist eine adressierte Erwartung innerhalb einer Beziehung und muss auch negative Interaktionserlebnisse verarbeiten. Diese Erfahrungen bewahren vor naiver Vertrauensseligkeit.
Umgekehrt trifft aber auch dies zu: Viele Menschen haben in ihrer Kindheit kaum positive Erfahrungen, dafür viele Erwartungsenttäuschungen gesammelt und sind Mitmenschen gegenüber grundsätzlich misstrauisch – wobei offen bleibt, durch was ihre Vertrauensweigerung oder -unfähigkeit verstärkt wurde. Sozialpsychologische Studien zeigen, dass diejenigen, die anderen gegenüber kein Vertrauen aufbringen, keineswegs autistisch agieren oder zum Scheitern verurteilt sind. Sie können sehr wohl über Selbstvertrauen verfügen und in der Lage sein, zukunftsbezogene Entscheidungen anhand realistischer Erwartungen zu treffen (sog. Vertrauens-Trias). Es gibt keinerlei Hinweise, dass in unserer Leistungsgesellschaft vertrauensvolle Menschen etwa erfolgreicher seien als per se misstrauische.
Vertrauen gilt Menschen aus Fleisch und Blut
Diese Stichworte sollen hier genügen, um zwei für die empirische Forschung unabdingbare Merkmale für Vertrauen herauszustellen: Erstens betrifft die Empfindung „Vertrauen“ die interpersonale Kommunikation im Hinblick auf künftige Interaktionen; Vertrauen ist prozessbezogen und keine abstrakte Meinung über X oder Y. Wenn von „Vertrauen in Institutionen“ die Rede ist (wie: Staat, Wirtschaft, Medien), dann verstehen die meisten Befragten darunter etwas anderes: nämlich ihre persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Vertretern der Institution einerseits und ihre Erwartungen in Bezug auf die Zuverlässigkeit und Leistungserfüllung der Institution andererseits. Dies sind rationale Kriterien und gelten so auch gegenüber dem Informationsjournalismus, der aus Sicht seiner Nutzer klar beschreibbare Leistungen erbringen soll. Manche Medienwissenschaftler verklammern selbst differenzierte Leistungserwartungen mit dem Schlagwort „Vertrauen in Journalismus“. Damit vernebeln sie, was in den Köpfen der Mediennutzer klar und deutlich artikuliert worden war.
Nun das Zweite. Aus den oben genannten Gründen sind die Menschen in individueller und daher in sehr unterschiedlicher Ausprägung vertrauenswillig. „Vertrauen“ ist kein Budget, das ich mal für dieses, mal für jenes Objekt ausgeben kann; es ist vielmehr ein erworbenes Vermögen, über das manche reichlich verfügen, andere weniger oder gar nicht. Der Grad der Vertrauensfähigkeit ist völlig unabhängig vom Alter, Geschlecht oder der formalen Bildung, er ist frei von Stadt-Land-Unterschieden oder den Einkommensklassen. Mit anderen Worten: Die Kriterien, nach denen repräsentative Stichproben für Meinungsumfragen gebaut werden, haben mit der unterschiedlich ausgeprägten Vertrauenswilligkeit in der Bevölkerung nichts zu tun. Darum mögen in der einen, soziodemografisch durchaus repräsentativ gebauten Stichprobe viele Vertrauenswillige, in einer anderen, ebenso repräsentativen, mehr Misstrauische versammelt sein.
Vertrauen oder Glaubwürdigkeit
Natürlich wäre die Frage interessant, ob zwischen der Vertrauenswilligkeit gegenüber den Mitmenschen (nennen wir es ein Merkmal sozialer Kompetenz) und der Beurteilung beispielsweise der Regionalzeitungsberichte ein Zusammenhang (Korrelation) besteht. Und ob sich dieser Zusammenhang etwa infolge von Ereignissen (=neuen Erfahrungen) verändert. Die Paradoxie ist durchaus denkbar, dass skeptisch eingestellte Menschen die Berichte in ihrer Tageszeitung – je nach Thema – für glaubwürdiger halten als vertrauensselige Leser. Und dass es bei den „Aktuell“-Nachrichten von RTL genau umgekehrt ist – wer weiß. Jedenfalls beziehen die Befragten das Merkmal
Glaubwürdigkeit unstrittig auf den Inhalt des Informationsangebots, während das Konstrukt Vertrauen bei vielen Menschen vielleicht von der Stimmhöhe oder den Gesichtsausdruck der Nachrichtensprecherin stimuliert wird – wer weiß. Um hierfür belastbare Antworten zu finden, müssten zuerst Indikatoren ausgewählt werden, mit deren Hilfe man die Vertrauenswilligkeit ermitteln kann (die gibt es). Dann würde man aus den vertrauenswilligen und den eher misstrauisch eingestellten Populationen je eine Stichprobe ziehen, beide dasselbe fragen und die Antworten vergleichen. Und wenn man einen Längsschnitt machen, also einige Zeit später die Befragung wiederholen will, müsste man dieselben Personen wie beim ersten Mal heranziehen, also die zwei Gruppen als Panel organisieren. Wenn sich dann Veränderungen in der Wertschätzung beispielsweise der Tagesschau zeigen, dann sind dies valide Befunde, die ein Stück der Medienwirklichkeit abbilden. Das ist kein Hokuspokus, sondern ein freilich aufwändigeres Verfahren, das hier und da praktiziert wird.
Mein Fazit: Die mit Demoskopie nach dem Muster des Eurobarometers ermittelten Befunde zum Thema „Vertrauen in die Medien“ sind Artefakte. Ihre Validität ist kaum größer als es seinerzeit das Orakel von Delphi war. Aus jenen Weissagungen zogen damals viele die falschen Schlüsse (Ödipus), manche missdeuteten sie (Lyder-König Krösus) – mit verheerenden Folgen. Um richtige Schlüsse zu ziehen, sucht man besser nach validen Daten, auch dann, wenn es nicht um Tod oder Leben, sondern um die Ansichten der Publika über ihre Informationsmöglichkeiten geht.
Schlagwörter:Demoskopie, Eurobarometer, Glaubwürdigkeit, Medienvertrauen, Orakel