Opfer und Täter, Helden und Fans

10. April 2019 • Qualität & Ethik • von

Der Docutainment-Film „Leaving Neverland” gibt mutmaßlichen Opfern das Wort, die erzählen, dass und wie Popstar Michael Jackson sie jahrelang sexuell missbrauchte. Die Art der Aufbereitung reißt Gräben auf, führt an die Grenzen von Wahrnehmung, Wahrnehmbarem und Wahrhabenwollen – und kann bei professioneller journalistischer Kontextualisierung weit über diesen konkreten Fall hinaus positiv wirken.

Missbrauchsvorwürfe gegen den “King of Pop” – viele Fans weigern sich zu glauben, dass daran auch nur ein Funken wahr sein kann

„Neverland“, Nimmerland, heißt die Insel, wo der nie erwachsen werdende Peter Pan mit seiner Bande der „verlorenen Jungs“ dem Piratenkapitän Hook trotzt. Diese Geschichte inspirierte offenbar Michael Jackson, sein Kinderland, das er auf einer Ranch in Kalifornien einrichtete, ebenfalls so zu nennen. Dan Reeds vierstündige Dokumentation „Leaving Neverland“ gibt Wade Robson (36) und James Safechuck (41) Raum, die Decke des Schweigens über einen Traum- und Albtraumort ihrer Kindheit wegzureißen.

Beide beschreiben, wie sehr sie ihr Idol angehimmelt und vergöttert haben, schildern aber auch vielerlei Varianten, wie Michael Jackson sie missbraucht haben soll, wie und warum sie für ihn gelogen und wie sie mit sich selbst gerungen haben, ehe sie sich die Wahrheit eingestehen konnten. Ihre Familien schildern Ähnliches, erzählen Geschichten von Sorglosigkeit, Begeisterung und Ernüchterung.

Der Film wurde auf dem Sundance-Festival vorgestellt, dann auf HBO gezeigt und nun im deutschen und im Schweizer Fernsehen – auf Pro7 und SRF. Überall spaltet er das Publikum. Der Jackson-Clan ist entsetzt und droht mit Klage, die Fans sind auf den Barrikaden, weigern sich zu glauben, dass daran auch nur ein Funken wahr sein kann. Andere sind überrascht und gerade deshalb entsetzt, weil das, was da geschildert wird, so plausibel und wahr wirkt, dass sie alles als zweifellos erwiesen ansehen. Obwohl zumindest die Gerichte, vor denen sich Jackson noch zu Lebzeiten wegen Vorwürfen des sexuellen Kindsmissbrauchs zu verteidigen hatte, ihn nicht überführten und verurteilten.

Die Aufregung rund um diesen Film spiegelt ein Ringen um Helden-, Täter- und Opferrollen wider, um Einordnung und Differenzierung – zwischen Kindsmissbrauch und Pädophilie. Dieses Ringen ist mühsam, aber nützlich.

Helden

Michael Jackson entwickelte sich mehr und mehr zu einer Figur, die aus der Welt gefallen ist. Er wuchs für seine Anhänger zu einer Art mythenumranktem Überirdischem, der sie sein Todesdatum 2009 ersetzen ließ durch „forever“. Für andere schrumpfte er zu einer bemitleidenswerten, künstlichen Figur, erbleicht und zurechtgeschnitten in zahllosen Schönheitsoperationen – zu einer Figur, wie sie heutzutage etwa in der Influencer- und YouTuber-Szene trendig und fast schon alltäglich wird, freilich ohne die zweifellose künstlerische Genialität, mit der Michael Jackson Popgeschichte schrieb.

Täter

Recherchen zu vielerlei Missbrauchsfällen – etwa in Einrichtungen der Kirchen sowie Hintergrundgeschichten über Varianten von Kindsmissbrauch – haben das Publikum in den vergangenen Jahren sensibler gemacht. Die #MeToo-Debatten bewirkten, dass die Gepflogenheiten insbesondere erfolgreicher und prominenter Männer im Showgeschäft, ihre Macht auch über sexuelle Übergriffe auszuspielen, nicht länger hingenommen werden. Endlich setzt ein Umdenken ein. Dies ist auch in einem Teil der Reaktionen auf „Leaving Neverland“ zu erkennen: „irdische Verfehlungen“ werden als solche verurteilt.

Opfer

Auch Verstorbene bleiben moralisch in der Verantwortung für ihre Taten, zumal wenn es lebende (und leidende) Opfer gibt. „Leaving Neverland“ zeigt zudem, wie eine Opferrolle sich wandeln kann. Wade Robson hat mit seiner Zeugenaussage in einem Gerichtsverfahren Jackson entlastet und sagt nun, heute belaste ihn genau das. Die Docutainment gibt Opfern eine Stimme und damit einer Personengruppe, die zu jenen gehört, die sonst eher schweigen oder wenig Wortmacht haben. Dieses Motiv „Giving a voice to the voiceless“ entspricht auch einem Auftrag an den Journalismus, der aber zugleich einschließt, dass dabei keine zentrale Position völlig vernachlässigt wird. Das erfolgt teils in der die Ausstrahlung des Films begleitenden Berichterstattung, in der Docutainment selbst hingegen nicht. Sie will zudem überhaupt kein mit journalistischen Mitteln gemachter Dokumentarfilm sein.

„Leaving Neverland“ ist ein Beispiel für ein gerade trendig gewordenes Format. „Making a Murderer“ oder „Surviving R. Kelly“ sind Varianten für einen Typus enthüllender Formate, die mutmaßliche Verbrechen aufdecken sollen – erklärtermaßen nicht ausgewogen, aber aufwändig und dramaturgisch so geschickt gemacht, dass sie eine nicht immer klar erkennbare, parteiische Perspektive einnehmen und wie eine verfilmte Paralleljustiz wirken. Journalismus hingegen hat den Anspruch, mehrere Sichtweisen zu zeigen, einzuordnen und Zusammenhänge sowie Begriffe zu erläutern.

Einordnung

Da haben Journalistinnen und Journalisten selber gerade beim Thema Pädophilie und Kindsmissbrauch Nachholbedarf. Viele setzen beides in ihrer Berichterstattung gleich. Jens Wagner (Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité Berlin) und die Kommunikationswissenschaftlerin Daniela Stelzmann (Freie Universität Berlin) haben untersucht, wie Medien Pädophilie darstellen, und Therapeuten befragt, wie dies auf Betroffene wirkt. Heraus kam ein Schwarzweiß-Bild: Ein Teil der Medien berichte sachlich und nah an der klinischen Definition von Pädophilie. Ein anderer konzentriere sich auf Fälle von Kindsmissbrauch und verknüpfe diese fast durchgängig mit Pädophilie, setzt also ein Verbrechen in direkten Zusammenhang mit einer sexuellen Neigung.

Tatsächlich seien sechs von zehn Missbrauchstätern gar nicht pädophil. Die meisten Pädophilen werden nie zu Tätern – wie ja auch die meisten Heterosexuellen nie Vergewaltiger werden. Pädophilie ist eine sexuelle Präferenz. Das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ an der Charité bietet Menschen mit solchen Neigungen Therapien an. Eine undifferenzierte, einseitige Berichterstattung wirke allerdings kontraproduktiv. Denn sie jage pädophilen Menschen Angst ein, ausgegrenzt zu werden. Sie trauen sich deshalb oft nicht, solche Hilfsangebote wahrzunehmen.

Diese Unterscheidungen verharmlosen Kindsmissbrauch nicht, sondern verdeutlichen die tatsächlichen Mechanismen dieses Verbrechens. Nicht-Wahrhabenwollen ist ein Schlüssel. Ein aktuelles Beispiel: Auf einem Campingplatz im Norden Deutschlands, in Lügde, sollen über die Jahre hinweg 40 Kinder missbraucht worden sein, die Zahl der Beschuldigten liegt laut einer Meldung der Deutschen Pressagentur von Anfang April bei acht Personen. Skandalös daran ist auch, dass offenbar Behörden weggesehen haben und bei der Polizei Beweismaterial verschwunden ist. Medien haben die Aufgabe, all dies öffentlich zu machen, weiter zu recherchieren und zu kritisieren. Auch wenn dies manche Personen stört, die sich beklagen, der Ort stehe nun zu sehr im Scheinwerferlicht.

Allerdings gibt es, gerade im Privaten einer Person, auch Grenzen des Beobachtbaren. Wenn selbst die Gerichte an ihre Grenzen stoßen: Weshalb sollte sich da die Öffentlichkeit anmaßen können, dass sie ganz genau weiß, was auf der Farm Neverland passiert ist? Das ermöglicht auch ein Film wie „Leaving Neverland“ nicht. Aber er weitet den Blick, kann Aufreger und Aufhänger sein, um sich vertieft mit dem Thema Missbrauch zu beschäftigen. Im Film denken die Eltern von James Safechuck und Wade Robson auch nach über ihre Sorglosigkeit und ihr indirektes Mitwirken und damit über Fragen, die bei vielen Missbrauchsfällen relevant sind. Und in den USA, in der Schweiz, in Deutschland – überall wo der Film gezeigt wurde, wurden Texte, Talks und Beiträge erstellt, die dessen einseitige Perspektive einordneten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.4.2019) wies die Psychologin Lydia Benecke auf viele Parallelen hin zu Beschreibungen von Menschen, die nachweislich Opfer beziehungsweise Täter waren, und zu den Mechanismen in der „Causa Lügde“. Benecke macht ebenfalls klar, dass sie dennoch kein Urteil fällen könne über Jacksons Schuld oder Unschuld.

Werk und Persönlichkeit eines Schöpfers hängen aber nicht Eins zu Eins zusammen. Freilich beziehen insbesondere Künstler – ob Schriftsteller, Musiker, Schauspieler oder Sänger – immer auch ihr persönliches Erleben in ihre Kunst ein. Doch in ihren Bühnenrollen, ihren fiktionalen Persönlichkeiten zeigen sie nie ihr ganz privates Gesicht. Konkret: Das Eine ist das Phänomen Jackson, die stilbildende Qualität seiner Musik, sein energetischer Tanzstil, seine Choreografien. Es gibt keinen moralischen Grund, diese Songs nicht mehr zu spielen. Die Person Jackson ist das Andere. Wenn die Sicht auf sie nun für manche im Rückblick durchaus tiefe Kratzer bekommen hat, wundert dies wenig. Viel mehr wundert die Bereitschaft vieler Fans, bei ihm, dem Star, zweifelhafte Seiten übersehen zu wollen.

Gegenüber Normalbürgern verhält sich dies offenbar völlig anders, belegt die 2015 veröffentlichte Mikado-Studie der Universität Regensburg. Das Forschungsteam befragte in Deutschland und Finnland 28.000 Erwachsene und über 2000 Kinder und Jugendliche zu sexuellem Missbrauch. Die Einstellung gegenüber Männern mit pädophiler Neigung ist demnach extrem negativ, auch gegenüber jenen, die gar keinen Missbrauch begangen haben. Fast jeder zweite will diese Personen vorsorglich einsperren, fast jeder dritte wünscht ihnen den Tod. Selbst etliche Therapeuten geben zu, auf pädophile Menschen mit Abneigung zuzugehen und sie ungern zu behandeln. Das Thema bleibt öffentlich bedeutsam, bestätigt eine weitere Zahl aus der Studie: 8,5 Prozent der jungen Erwachsenen haben Missbrauchserfahrungen gemacht, nur ein Prozent davon sei Ermittlern oder Jugendämtern bekannt.

Erstveröffentlichung: derstandard.at vom 9. April 2019

Bildquelle: Flickr CC / Mike Senese: Michael Jackson fan-made memorial; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

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