epd-medien, Nr. 4, 2006
Wie Fernsehsender über Krisen berichten
Das Katastrophenjahr 2005 hat auch in der Medienbranche Spuren hinterlassen: Kaum eine Woche verging, in der sich Redaktionen und Journalisten nicht fragen mussten, ob sie noch das Richtige tun. Denn nicht erst seit der Diskussion um die Ausstrahlung des Geiselvideos der entführten Susanne Osthoff vor einigen Wochen wurde deutlich, dass die Schlüsselrolle des Fernsehens in Krisenzeiten zunimmt, je brenzliger die Lage wird.
Die nicht enden wollende Spendenbereitschaft nach der Tsunami-Katastrophe Ende 2004 zeigte indessen, dass eine emotionale bis appellative Berichterstattung durchaus viel Gutes bewirken kann. So haben sich viele Journalisten und Redakteure vergangenes Jahr – ganz entgegen dem Credo des einstigen „Tagesthemen“- Moderators Hanns-Joachim Friedrichs – mit allerlei Dingen, über die berichtet wurde, gemein gemacht – und das nicht nur mit den guten. Dass die Risiken und Nebenwirkungen des Fernsehens zunehmend unkalkulierbar werden und somit gar nicht überschätzt werden können, hat zuletzt die höchst merkwürdige Geschichte der Susanne Osthoff offenbart. Ein Lehrstück für journalistische Handwerksliteratur. Tatsächlich nährt dieses Entführungsdrama erneut die Befürchtung, dass das Leitmedium gerade in Krisensituationen mehr denn je für fragwürdige Multiplikationseffekte sorgt, die nicht nur auf die öffentliche Meinungsbildung in ganz Europa, sondern auch auf das politische Denken und Handeln bis hoch in die Regierungsetagen einwirken.
Unfreiwilliges Millionenpublikum
Dass Bekennervideos – teils aus Verantwortungsbewusstsein, teils aus vorauseilendem Gehorsam – neuerdings unter Verschluss gehalten werden, wie es ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann während der Osthoff-Entführung vorgezogen hat, mag zwar in idealistischen Diskursen von Ethik-Seminaren als vorbildlich gewertet werden. Außerhalb der akademischen Sphären ändern solche – zugegeben: mutigen – Entscheidungen aber trotzdem wenig daran, dass das Fernsehen früher oder später Gefahr läuft, zum verlängerten Arm für kriminelle Botschaften zu werden. Auch wenn das Internet als globale Abspielstation für Terrorbotschaften und heimliche Rekrutierungsplattform von El Kaida dienen mag, ist das Fernsehen immer noch der eigentliche Hauptkanal des Terrornetzwerks, zumal wenn es darum geht, Panik mit der größten öffentlichen Wirkung zu verbreiten. Die Furcht, Terroristen und Kriminellen ein massenmediales Forum zu bieten, gibt es im internationalen Nachrichtenjournalismus jedoch mindestens, seit es politisch motivierten Terrorismus gibt – es sei hier nur an das unfreiwillige Millionenpublikum für die Aktionen des Terrorkommandos Schwarzer September bei den Olympischen Spielen 1972 in München erinnert. Aus dem früher eher bescheidenen Sendungsbewusstsein der TV-Nachrichtenmedien ist eine ausgewachsene Geltungsneurose geworden. Zumindest scheint es, als hätten die Programmmacher über die vielen Brennpunkte, News Crawls und Terrorexperten, die sie einst riefen, die Kontrolle verloren. Die Rundum- die-Uhr-Berichterstattung im Fernsehen gleicht einem nicht mehr zu bändigenden Katastrophen- und Krisen-Overkill, in dem nur noch unverbesserliche Zyniker einen Quotenbringer erkennen wollen.
Ökonomisches Kalkül
Nimmt es da wunder, wenn sich beim Zuschauer unterdessen erste gefühlte Sättigungseffekte einstellen? Womöglich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Fernsehen selbst Unglücke und Krisen inszenieren muss, um sämtliche dafür vorgesehenen Programmstrecken morgen- und abendfüllend zu bespielen. Die zugeschanzten Terrorvideos kommen einigen da gerade recht: Inzwischen verteidigen sich Sender schon damit, dass sie gar nicht mehr anders könnten, als Terrorvideos ungeschnitten zu zeigen, weil es andernfalls die Konkurrenz ohnehin täte. Mit journalistischem Jagdinstinkt und Pressefreiheit hat das alles wenig zu tun; vielmehr geht es um ökonomisches Kalkül und vielleicht auch so etwas wie professionelle Selbstbefriedigung. Dagegen gleicht ein entschlossener, moralisch begründeter Verzicht aufs exklusive Senderecht heute fast schon einem zölibatären Gelöbnis, also etwas, das in Medienkreisen als ziemlich unsexy und ganz sicher nicht erstrebenswert gilt. Doch selbst wenn sich Redaktionen um einen reflektierteren Umgang mit Breaking News bemühen würden, unterliefen ihnen dennoch zwangsläufig strategische Fehler: Ethisch gesehen zwar unangreifbar, sind solche Entschlüsse wie die von der Tanns stets eine professionelle Gratwanderung zwischen Selbstzensur, Pressefreiheit und Terrorpropaganda. Forderungen von Familienangehörigen, Entführungen durch selbst initiierte Videobotschaften um jeden Preis publik zu machen, um dadurch öffentlichen Druck auf die Bundesregierung auszuüben, sind zwar aus Sicht der Betroffenen – wie die Familie Osthoff – durchaus nachvollziehbar. Für das Fernsehen könnte aber genau dieser Wunsch zum Verhängnis werden: Machen sich die Journalisten auf diese Weise nicht zu Handlangern der Entführer?
Erfüllungswerkzeug
Lehrreich war in dieser Hinsicht die Ausstrahlung des Entführungsvideos der Journalistin Giuliana Sgrena im staatlichen Fernsehen, nach der die italienische Öffentlichkeit im Februar 2005 auf die Barrikaden ging. Dadurch sah sich die Politik zum Handeln gezwungen und setzte letztlich alle diplomatischen Hebel in Bewegung. Die Geisel kam am Ende frei, allerdings (nach heutigem Kenntnisstand) gegen einen Millionenbetrag, eine stattliche Summe Steuergelder, die – allen Dementis zum Trotz – vermutlich auch für Frau Osthoff geflossen sein dürfte. Dieses Krisenmanagement hat aufs Neue die politische Erpressbarkeit demokratischer Systeme durch eine emotionale TVBerichterstattung offenbart. Der moderne Terrorismus, der weniger von fundamentalistischer oder ideologischer Verirrung als von reiner Geldgier getrieben wird, ist nunmehr auf den Trick gekommen, das Fernsehen als Erfüllungswerkzeug zu missbrauchen. Ausgerechnet der Marxsche Imperativ, die Welt nicht nur verschieden zu interpretieren, sondern sie verändern zu wollen, wird für Journalisten in Krisenzeiten zum Lackmustest: Sollten Chefredakteure zu Spenden aufrufen? Müssen Fernsehverantwortliche wirklich zuerst mit dem Auswärtigen Amt sprechen, bevor sie ein Erpresservideo ausstrahlen? Welches Handeln wird zur professionellen Ultima Ratio, wenn die Zeit drängt? Was für das Katastrophenfernsehen erschwerend hinzukommt: Bericht und Kommentar sind bei Qualitätszeitungen für den Leser noch vergleichsweise leicht zu unterscheiden. Für TV-Berichte ist das nicht immer so einfach zu beantworten. Bei spontanen Krisenereignissen entfaltet das Live-Medium zudem eine Eigendynamik, die gleich von mehreren Einflussfaktoren bestimmt ist: Von der Plötzlichkeit, mit der Krisen über Redaktionen hereinbrechen und die oftmals professionelle Kurzschlusshandlungen nach sich zieht; vom Tempo der Berichterstattung, das dem Anspruch der Nachrichten geschuldet ist, als Erster und mit möglichst exklusiven Meldungen auf Sendung sein zu müssen; vom Drang des Fernsehens zum Voyeurismus, der nicht selten willkürliche Bilderteppiche der Gewalt und des Grauens verschuldet – und vom rasch aufkommenden Desinteresse der Zuschauer, sobald nichts Neues mehr passiert oder kein frisches Bildmaterial mehr verfügbar ist.
Kampf um Marktanteile
Vor allem seit dem 11. September 2001 hat die Krisenkommunikation eine neue Qualität erfahren, die sich im unverhältnismäßigen Aufkommen von Breaking News, den immer gewiefteren Medieninszenierungen auch von unerwarteten Live-Ereignissen und der ressortähnlichen Etablierung des Krisenjournalismus widerspiegelt. Zwar geht die Einführung von Morgen- und Nachtmagazinen sowie die Schließung der „Nachtlücken“ in den Vollprogrammen auf Entscheidungen zu Zeiten des ersten Irak- und des Bosnien- Kriegs zurück, doch sind ernsthafte Vorkehrungen in vielen Nachrichtenredaktionen erst seit der spektakulären Live-Übertragung vom einstürzenden World Trade Center zu beobachten. Ebenso neu ist auch das Phänomen, dass es inzwischen Kollegen in der Branche gibt, „die geradezu süchtig sind nach Krisen. Denn sie sehen, dass sich der Kampf um Marktanteile und Quoten gerade in Krisenzeiten besonders gut austragen lässt“, räumte WDR-Chef Fritz Pleitgen kürzlich in der „Funkkorrespondenz“ ein. Nach wie vor muss dem Leitmedium aber zugestanden werden, dass es zur Orientierung und Krisenbewältigung beiträgt. Auch wenn die Berichterstattung über die Krisen, Konflikte und Katastrophen der vergangenen Monate anfangs eher Angst und Stress ausgelöst haben mag, ging es gleichzeitig immer darum, in kürzester Zeit Hintergründe, Erklärungen und Interpretationen für die Zuschauer bereitzuhalten und dem Vorgefallenen einen Sinn zu geben. Damit trägt das Fernsehen für einen Großteil der Bevölkerung dazu bei, Panik zu vermeiden und ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Weil Moderatoren, Experten und Korrespondenten über Krisen niemals nur nüchtern berichten, sondern immer auch erzählen, dramatisieren und „menscheln“, macht sich die Funktionslogik des Fernsehens vor allem dort bemerkbar, wo es selbst an seine Kapazitätsgrenzen gerät. Denn sobald die Routinen der Berichterstattung aussetzen, ergreift das Fernsehen Verteidigungsmaßnahmen, indem es das Wirklichkeitsbedrohende verstehbar macht und den Zuschauern suggeriert, dass es alles im Griff hat. Mit der Filetierung des Ereignisses in Sondersendungen, Expertenaufsager und Korrespondentenberichte demonstriert die Mediendialektik, dass selbst solche erschütternden Ereignisse die Fernsehmacher nicht so schnell aus der Fassung bringen können. Indem das Fernsehen die immergleichen Bilderschleifen des Terrors penetriert, kann es – abseits der allseits befürchteten Abstumpfung ihrer Betrachter – zumindest auch eine wichtige Verarbeitungsfunktion erfüllen. Bei Wiederholungen geht es für die Zuschauer mithin um ein therapeutisches Ritual: indem das Fernsehen dem Publikum vermittelt, dass es im Moment des Zuschauens in Sicherheit ist. Diese Schutzfunktion wird verstärkt durch den niemals abreißenden 24-Stunden-Programmfluss: Solange gesendet wird, muss die Welt noch intakt sein. Nach wie vor gilt die Maxime, dass das Fernsehen berichten muss. Zu diskutieren bleibt aber die Frage, nach welchen Richtlinien dies künftig geschehen soll. Nervöse Nachrichtenlaufbänder, ausgeklügelte Notfallszenarien für Live-Schalten und seitendicke Expertenlisten, um bei plötzlichen Krisen auf Zack zu sein, sind nur kosmetische Maßnahmen. Um die Zahl der handwerklichen Fehler in Krisensituationen zu minimieren, bräuchte es konkrete editorische Richtlinien, wie sie beispielsweise die BBC aufgestellt hat. Echten Modellcharakter für journalistische Ethik haben die 225 Seiten starken „Editorial Guidelines“, die im Juni 2005 – nicht zuletzt wegen der Gilligan- Kelly-Affäre – vollständig überarbeitet wurden. Während in Deutschland solche Möglichkeiten ‚regulierter Selbstregulierung' in vielen TV-Redaktionen offenbar stillschweigend vorausgesetzt, bestenfalls intern und dann auch nur im Extremfall diskutiert werden, kontert die öffentlich-rechtliche BBC mit teils obligatorischen, teils fakultativen Redaktionsstandards zu so ziemlich allem, was Programmplanern, Journalisten und Moderatoren im Redaktionsalltag begegnen kann: Neben allgemeinen Werten werden praxisnahe Instruktionen zum Reportereinsatz in Kriegsgebieten, zur britischen Wahlberichterstattung, aber auch zur Übertragung von königlichen Hochzeiten geliefert.
„Bibel der BBC“
Aus gutem Grund gelten die „Editorial Guidelines“, die jedem neuen Mitarbeiter schon beim Einstellungsgespräch ausgehändigt werden, als „Bibel der BBC“. Solche Regeln schaffen nicht nur Verbindlichkeiten, sondern prägen auch das selbstbewusste, fast schon religiöse Zugehörigkeitsgefühl unter den rund 27.000 BBC-Mitarbeitern. Für die Terror- und Krisenkommunikation gelten seit einigen Jahren detaillierte Richtlinien, die auch im Internet unter „Section 11 – War, Terror and Emergencies“ abrufbar sind. Um Vorverurteilungen zu vermeiden, steht dort geschrieben, fühle man sich einem sensibleren Umgang mit unsauberen sprachlichen Redewendungen („Terrorist“, „Terror“) verpflichtet. Nicht erst seit den Londoner Bombenanschlägen vom Juli 2005 werden Redakteure aufgefordert, möglichst nicht mit den Emotionen ihrer Zuschauer zu spielen, etwa durch reißerische Darstellungen oder übertriebene Wortwahl. Berücksichtigt werden auch Szenarien wie Geiselnahmen, Kidnappings und Erpressungen. Eindeutig ist dort beispielsweise geregelt, dass keine zugespielten Videos oder Live-Interviews mit Verbrechern (‚Perpetrators') gesendet werden dürfen. Zudem müssen Mitarbeiter umgehend Meldung machen, wenn sie Kontakt zu Kriminellen aufnehmen, und Regierung oder Geheimdienste informieren. Auch organisierte Ereignisse (‚staged events'), die auf einen terroristischen Hintergrund schließen lassen, werden in den Guidelines präventiv berücksichtigt: „Jeder Vorschlag, einem inszenierten Ereignis von einer verbotenen Organisation oder Gruppe mit terroristischer Vergangenheit beizuwohnen“, heißt es, „muss einem redaktionell Verantwortlichen oder – für freie Mitarbeiter – einem zuständigen Redakteur überantwortet werden.“
Notfalls zurückziehen
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so kleinteilig, hat sich der öffentliche-rechtliche US-Sender PBS (Public Broadcasting Service) bereits in den 1970er Jahren „Editorial Standards and Policies“ gegeben, die im Juni 2005 um der Transparenz willen komplett erneuert wurden: Hier wird etwa unter der Rubrik „Unacceptable Production Practices“ gefordert, dass sich Produktionsteams während terroristischer Ereignisse oder ähnlicher Ausnahmezustände notfalls zurückziehen müssen, wenn sich abzeichnet, dass die Präsenz der Fernsehkameras in irgendeiner Weise den Verlauf der Lage beeinflussen könnte. Solche redaktionellen Selbstverpflichtungen setzen die Einsicht voraus, dass es bei der Krisenberichterstattung noch um viel Wichtigeres geht als um Schnelligkeit und Exklusivität. So ist es kaum verwunderlich, dass sich Privatsender mit ihrem kommerziellen Wirken schwer damit tun. Demgegenüber wurde das jahrelange Versäumnis in Deutschland von den öffentlich-rechtlichen TV-Anbietern jedoch unlängst erkannt – auch wenn diese Vorschläge ihre Praxistauglichkeit erst unter Beweis stellen müssen: Im Oktober 2004 hat die ARD erstmals so genannte „Leitlinien für die Programmgestaltung der ARD 2005/06“ (epd 79/04) formuliert, in den Worten von ATTE NDR-Intendant Jobst Plog „grundlegende Aussagen zum Auftrag des ARD-Gemeinschaftsprogramms“. Auch wenn die BBC-Bibel für die 96-seitige Broschüre als Vorbild gedient haben mag, bleiben die Leitlinien der ARD allerdings vergleichsweise abstrakt, und in punkto Krisen, Terror und Kriege hält man sich ganz bedeckt. Wie die ARD will auch das ZDF fortan alle zwei Jahre Erklärungen abgeben, die „im kritischen Austausch mit Fernsehrat, Zuschauern und Öffentlichkeit die Qualität und das Profil“ des Senders schärfen helfen sollen, schreibt Intendant Markus Schächter in der Präambel der ZDF-Selbstverpflichtungen. Die zeitgleich mit den ARD-Leitlinien veröffentlichten „Programmperspektiven“ sind äußerst knapp gehalten und ebenfalls noch weit entfernt von den Leitlinien der BBC. Überhaupt fehlen noch Handlungsempfehlungen für die eigentliche Redaktionsarbeit, beispielsweise vermisst man ebenfalls handwerkliche Richtlinien zur Krisenberichterstattung. Gerade mit Blick auf das Nachrichtenfernsehen wurde das Leitprinzip bei weitem noch nicht ausgereizt, zumal solche Richtlinien offenbar eher der Außendarstellung dienen, statt die Absicht zu verfolgen, einen ethischen Verhaltenskodex für Mitarbeiter zu entwerfen. In Deutschland gibt es also noch eine erhebliche Vermittlungslücke, die ausgefüllt werden muss, um der neuen Rolle des Fernsehens als ständigem Begleiter in Krisenzeiten gerecht zu werden. Die deutschen Fernsehmacher müssen erkennen, dass es nicht reicht, in Krisen möglichst umfassend und rasch zu informieren. Differenziert aufklären heißt in Krisenfällen auch, die gesellschaftliche Verantwortung für die Berichterstattung zu tragen und anzuerkennen, dass das Fernsehen hierfür redaktionelle Richtlinien benötigt, die unmissverständlich festschreiben, was es wirklich bedeutet, als Erster auf Sendung zu sein.
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