Durch Wettbewerb aus der Identitätskrise

29. September 2008 • Medienökonomie • von

26. September 2008, Neue Zürcher Zeitung

Die New York Times auf temporeichem Erneuerungskurs. Rupert Murdoch positioniert das Wall Street Journal neu und setzt damit die New York Times unter Druck. Die Times erfindet sich zurzeit in atemberaubendem Tempo neu.

Über vier Generationen hinweg hat das Blatt «für den Journalismus weltweit die Standards gesetzt». Dabei seien «ausserordentliche Höhen, aber auch einige erschreckend-beschämende Tiefpunkte» zu würdigen, schreibt die American Journalism Review in einem von zwei lesenswerten Porträts, die kürzlich in der Fachpresse erschienen sind. Die Einschätzung hat nicht nur Bestand, wenn man das vergangene Jahrhundert Revue passieren lässt; sie trifft auch erstaunlich genau die derzeitigen gegenläufigen Entwicklungen bei Amerikas Weltblatt. Ein Indiz der Widersprüchlichkeit ist allein schon der Kosename: Noch immer wird die New York Times als «Graue Lady» tituliert. Das passt indes weder zum farbigen Outfit und zu den opulenten Lifestyle-Beilagen noch zu ihrer Internet-Präsenz – und auch nicht zu so manchen Auftritten, die gelegentlich schräg und schrill ausfallen können.

Besser als die andern
Mitunter ist es sogar der Verleger, Arthur Sulzberger Jr., der provoziert. Beim Wirtschaftsgipfel in der Höhenluft von Davos schockierte er voriges Jahr seine Zuhörer mit der Feststellung, er wisse nicht, ob sein Blatt in fünf Jahren noch auf Papier gedruckt werde. Es sei ihm «letztlich auch egal». Diese Aussage hat er freilich alsbald relativiert, und auch jetzt betont er, dass «Print noch über viele Jahre hinweg lebensfähig bleiben wird». Sein Job sei es allerdings, «das digitale Geschäft so schnell weiterzuentwickeln, dass es die Verluste im Print-Sektor ausgleicht». Genau an diesem Punkt haben Forscher jüngst Zweifel angemeldet. Eine Studie des Project of Excellence in Journalism lässt befürchten, dass die Werbung zwar den Publika ins Internet folgt – aber keineswegs zwingend auf die Nachrichten-Websites der Zeitungshäuser.

Sulzbergers Bilanz kann sich dennoch sehen lassen – vor allem angesichts der Endzeitstimmung, die sich in der US-Zeitungsbranche in den USA derzeit ausbreitet. Die Auflage sinkt weniger stark als anderswo; sie ist jüngst sogar leicht angestiegen. Werktags wurden im März 2008 1,077 Millionen Exemplare verkauft – das sind nur 33 000 Exemplare oder 3 Prozent weniger als zehn Jahre zuvor.

Auch das Anzeigengeschäft war über lange Zeit weniger rückläufig als bei vielen Wettbewerbern. Bei der New York Times Co. waren noch im Frühjahr die Einkünfte aus Inseraten innerhalb eines Jahres nur um 5 Prozent gefallen – im Branchenvergleich waren es durchschnittlich 7 bis 8 Prozent. Erst im zweiten Quartal erwischte es auch die New York Times Co. bös. Das Haus musste 17,8 Prozent weniger Anzeigeneinkünfte als im Vorjahr vermelden. Immerhin werden online steigende Erträge erzielt. Dem Börsenkurs hat das allerdings nicht aufgeholfen.

Gut 1200 Redaktoren
Die langfristig denkende und qualitätsbewusste Eigentümerfamilie hat sich bisher von den Investoren und Finanzanalytikern der Wall Street nicht irremachen lassen. Der Stellenabbau in der gigantischen Redaktion geht behutsamer vonstatten als in anderen Zeitungskonzernen. Mit 1330 Mitarbeitern in der Redaktion war bei der «New York Times» 2008 der Höchststand erreicht. Seither wurden über 100 Stellen gestrichen. 50 Korrespondentenbüros im In- und Ausland unterhält die Zeitung nach wie vor.

Welche Glanzleistungen mit der Website nytimes.com erbracht werden, merkt vermutlich ein durchschnittlicher Web-Surfer kaum. Man muss sich schon gezielt durch das raffinierte Angebot hindurchklicken, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie vielfältig, wie interaktiv, wie multimedial und auch wie transparent Qualitätsjournalismus im Internet sein kann, wenn eine so grosse Redaktion aus dem Vollen schöpft.
Referenz im Internet

«Die New York Times ist im Internet mehr als jeder andere Nachrichtenlieferant Agenda-Setter», konstatiert ein internes Memo und zitiert die jüngsten Daten der Medienforschung. Allein im Februar 2008 haben sich rund 50 000 Blogs mit der New York Times verlinkt. Blog-Links, also Querverweise auf Quellen im Internet, sind ein ziemlich wichtiger Indikator für öffentliche Wahrnehmung, weil Blogger in ihrem jeweiligen Spezialbereich meist ganz gut auf dem Laufenden sind und als Meinungsmultiplikatoren wirken.

Solche Erfolge haben vermutlich auch damit zu tun, dass die Redaktionen konsequent zusammengeführt wurden. «<Online first> gilt so gut wie unumschränkt seit 2007», sagt Jonathan Landman, der journalistisch für die Web-Angebote des Blatt zuständig ist. Denn natürlich will man den technologischen Vorteil ausspielen, Nachrichten schneller zu übermitteln als mit traditioneller Drucktechnik und so auch das Fernsehen und das Radio wieder auf die Plätze zu verweisen.

Das Web könne auf «radikal andere» Weisen eingesetzt werden als eine Zeitung, meint Landman. Aber auch das «Universum der Wettbewerber» sei geradezu explodiert. Bisher sind es zwei, drei Zeitungen gewesen, jetzt seien es die grossen Portale, aber auch eine Vielzahl hochspezialisierter Blogs bis hin zu Wikipedia. Während treue Zeitungsleser meist ihre Zeitung läsen, seien die besonders loyalen Web-User der New York Times gerade jene Nutzer, die von einer Website zur anderen surften und sich somit ein sehr breit gefächertes Angebot im Internet erschlössen.
Interaktiv

Loyal, das heisst im Internet auch: interaktiv. Landman ist stolz darauf, wie stark sich die Leserschaft an Diskussionsforen beteilige, mit wie vielen Fragen er und seine Kollegen bombardiert würden, wenn sie online als Gesprächspartner zur Verfügung stünden – und wie schnell zum Beispiel an jenem Vormittag, an dem unser Gespräch stattfindet, Leser auf ein Kran-Unglück in Manhattan reagiert und erste Fotos geschickt hätten.

Auch umgekehrt umarmt die gedruckte Zeitung das World Wide Web und die Blogosphäre: Es vergeht kein Tag, an dem nicht Aktivitäten im Web Gegenstand der Berichterstattung in der gedruckten Zeitung wären. Ein Beispiel, das äusserst kontroverse Leserreaktionen ausgelöst hat: Das New York Times Magazine gab einer Bloggerin, die im Internet Kultstatus hat, Gelegenheit, ihr Innerstes vor der Leserschaft auszubreiten. Man begleitete die Geschichte mit einer Fotostrecke, auf der die 24-Jährige samt all ihren Tattoos in sinnlichen Posen präsentiert wurde. Wer mit dem Web so verwoben ist, muss sich die Frage gefallen lassen, ob die dort vielfach aufgeweichten journalistischen Standards allmählich auf die Website und das Mutterblatt abfärben.

Um seine Redaktion aus ihrer schlimmsten Identitätskrise herauszuführen, in die sie nach den Skandalen um die Fälschungen von Jayson Blair und um ihre einseitige und teilweise falsche Berichterstattung über den Irak-Krieg geraten war, hat Chefredaktor Bill Keller mit vorzeigbaren Erfolgen den investigativen Journalismus wiederbelebt und dafür 2008 einen Pulitzer-Preis erhalten. Eine solche Recherche aus jüngster Zeit verdient es, beispielhaft hervorgehoben zu werden: Der Gouverneur von New York, Eliot Spitzer, musste zurücktreten, weil er sich als Saubermann profiliert, aber die Dienste eines illegalen Prostituiertenrings in Anspruch genommen hatte.
Trippeln auf dem Boulevard

Andererseits stöckelt die «Graue Lady» immer öfter auf dem Boulevard daher und irritiert damit nicht nur Stammleser. Manchmal gerät sie ins Stolpern. Zwei Beispiele: Die Redaktion versuchte, dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten McCain eine Affäre mit einer Lobbyistin anzuhängen, ohne dies letztlich beweisen zu können. Als sie kurz darauf einen «echten» Scoop landete und Spitzer zu Fall brachte, gingen ausserdem zwei wichtige Themen im Medienspektakel über den Sexskandal unter.

Erstens schien sich kaum jemand für die Frage zu interessieren, ob der Fall nicht in erster Linie deshalb skandalös war, weil staatliche Ermittlungsbehörden rabiat die Privatsphäre des Politikers verletzt hatten. Tags darauf berichtete die Times stattdessen über die Prostituierte, mit der sich Spitzer amüsiert hatte – mit einer schlüpfrigen Fotostrecke und Details aus deren Privatleben. Im Skandalstrudel wurde zweitens die eigentliche Neuigkeit übersehen: Der Kommandeur der US-Marine im Nahen Osten und damit auch im Irak, William J. Fallon, war zurückgetreten – offenbar im Dissens mit der Regierung Bush.

Dies führt zum dritten bemerkenswerten Charakteristikum der neuen, Web-affinen New York Times: Es gibt vermutlich keine andere Zeitung der Welt, die sich vergleichbar um Transparenz bemüht. Freiwillig, sehr penibel und täglich wiederkehrend werden auf Seite 2 die Fehler des Vortags korrigiert. In «editor's notes» wird oftmals ergänzend erläutert, weshalb der Redaktion ein Irrtum unterlaufen ist. Aber auch in Blogs und Diskussionsforen stehen Redaktoren Red und Antwort. Seit dem Skandal um Jayson Blair hat das Blatt ausserdem einen «Public Editor», an den sich Leser mit Beschwerden über die Berichterstattung wenden können. Er trägt mit einer eigenen Kolumne regelmässig zur Diskussion um professionelle Standards bei und ist im ganzen Land eine vielbeachtete Autorität – nicht zuletzt auf seinem Blog diskutieren die Leser leidenschaftlich die Verfehlungen des Blatts.

Gerade mit solcher Offenheit hält die New York Times sich selbst und anderen den Spiegel vor und legt die Messlatte für die meisten Wettbewerber unerreichbar hoch. Es verwundert, wie wenig diese Bemühungen um Transparenz registriert werden von all denen, die dem Blatt noch immer Überheblichkeit vorwerfen, ihm mit Misstrauen begegnen und es als Teil der «mainstream media» verorten.

Murdoch als Identitätsstifter
Immerhin dürfte die verschärfte Konkurrenz die Redaktion zusammenschweissen und somit ihr Scherflein dazu beigesteuert haben, dass sie ihre Identitätskrise überwunden hat. Dass Rupert Murdoch mit seinem Wall Street Journal zur Attacke entschlossen ist, daran hegt kaum jemand mehr Zweifel. «Natürlich ist das eine ernstzunehmende Bedrohung», sagt Landman. Murdoch sei ein Gegner, der mit seiner Entschlossenheit und mit nahezu unbegrenzten Ressourcen schon viele das Fürchten gelehrt habe.

Murdochs neuer Generalissimus, Robert Thompson, verweigert sich derzeit Interviews, aber die Strategie wird dennoch erkennbar (NZZ 2. 5. 08). Optisch verspricht das neue «Wall Street Journal» so etwas wie eine New York Times light zu werden, was gefährlich werden könnte, weil zwischen dem liberalen, aber im Erscheinungsbild eher konservativen Weltblatt und Amerikas grösster Tageszeitung, dem auf anspruchsvolle Weise bunt-boulevardesken USA Today, eine Marktnische zu besetzen sein könnte.

Murdoch ist indes nicht nur ein begnadeter Stratege, sondern auch eine Spielernatur. Es könnte sein, dass er diesmal seinen Gegner unterschätzt. Sein Einsatz ist hoch, und ob es sich für ihn wirklich auszahlt, die New York Times anzugreifen, um seine eigene Leserbasis zu verbreitern, wird sich zeigen müssen. Sulzberger jedenfalls gibt sich zuversichtlich. Er geht offenbar davon aus, dass der Konkurrenzkampf vor allem online ausgetragen werden wird: «Selbst wenn WSJ.com kostenlos angeboten würde, hätten sie einen weiten Weg zu gehen, um uns gegenüber in der Reichweite aufzuholen.»

Seine grösste Bewährungsprobe kann Sulzberger allerdings nur dann bestehen, wenn ihm der eigene Clan nicht in den Rücken fällt. Eine feindliche Übernahme der New York Times gilt als schwer möglich, weil – anders als etwa beim Verkauf des Zeitungskonzerns Knight-Ridder an McClatchy – die Zwei-Klassen-Struktur des Aktienkapitals der Familie die Kontrolle über das Unternehmen weiterhin sichert. Sollte es in der inzwischen weitverzweigten Dynastie Verkaufswillige geben, könnte es eng werden. «Ob die Hedge-Funds Erfolg haben, hängt davon ab, ob Sulzberger die Erben zusammenhalten kann. Das wird nicht ganz einfach sein – es dürfte Familienmitglieder geben, die Bargeld sehen möchten, und auch solche, die alte Rechnungen zu begleichen haben», sagt ein New Yorker Medienexperte, der mehrere Mitglieder der Familie persönlich kennt und namentlich nicht genannt werden will.

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