St. Galler Tagblatt, 14.12.2007
Fünf Gratis-Tageszeitungen gibt es heute in der Deutschschweiz, eine sechste ist geplant
«20 Minuten», «Heute», «Cash daily», «.ch» und seit kurzem «News» – allein in der Deutschschweiz sind fünf Gratis-Tageszeitungen auf dem Markt. Sind die Blätterberge eine Plage? Oder retten sie das Medium Tageszeitung?
Keine Frage: Gratiszeitungen sind verführerisch. Sie sind einfach da, kosten nichts, haben ein handliches Format und lassen die zwanzig Minuten, die der Mensch hierzulande durchschnittlich in Zug, Bus oder Tram verbringt, vergehen wie im Flug.
170 Titel weltweit
Sie bieten – nach den Worten ihrer Macher – alles, was neu und wichtig ist in guter Nachrichtenqualität; idealtypisch finanzieren sie sich möglichst rasch aus Inserate-Erlösen und helfen andere Produkte eines Verlags zu stützen.
Die Marktdaten klingen verlockend. Gegenwärtig gibt es in 26 europäischen Ländern Gratis-Tageszeitungen. Weltweit sind es 170 Titel; ihre Auflagen verdoppelten sich nach Angaben des Weltverbands der Zeitungen seit 2001. Die AG für Werbemedienforschung (Wemf) bestätigt diese Dimension für die Schweiz – und liefert Stoff für weitere Verheissungen: Gratisblätter erreichen die, die viele verloren glaubten: fast jeder zweite ist jünger als 30.
Das Verhältnis der Jüngeren zur Schreib-Lese-Generation bleibe dauerhaft gestört, erklärt Philipp Ikrath von der deutsch-österreichischen Jugend-Marktforschungsagentur «TFaktory». Er glaubt nicht an die Hoffnung vieler Verleger, dies sei ein erster Schritt, sich spätestens im «Familienalter» dann Zeitungen zu kaufen. «Zeitung lesen wirkt für viele Jüngere eher peinlich.» Und in die Zeitungsbox greife man, weil sie halt da steht.
Zeitungen ohne Wert
Besonderen Wert hat ein Gratisblatt für die meisten Leute nicht: Eine gekaufte Tageszeitung stecken sie ein, das Gratisblatt lassen sie liegen oder stopfen es am Zielort, meist in den Städten, in den Abfallkübel. Mancherorts trieb das ungeheuerliche Blüten. In London werden Verlage teils mit Entsorgungsstrafen belegt, eine Bürgerinitiative protestiert gegen drei zusätzliche Tonnen Papiermüll täglich. In Kalifornien hingegen machten manche in einem solchen Ausmass Gratisblätter als Altpapier zu Geld, dass nun jedem, der mehr als 25 Exemplare stiehlt, Gefängnis droht.
Der Markt der Zukunft
Beide – Wegwerfblatt und Kaufblatt – bleiben, wenn sie journalistisch glaubwürdig gemacht sind, behauptet der Leipziger Journalistikprofessor Michael Haller. Er untersuchte die Rolle der Gratis-Presse auf dem europäischen Pressemarkt und folgert, sie übernehme trotz überall sinkender Reichweiten der Kaufzeitung nicht automatisch deren Platz. Haller prophezeit eine Segmentierung: in Qualitäts-Kaufzeitungen für die, die das Besondere schätzen, und in Gratis-Tageszeitungen mit Pfiff und hoher Online-Kompetenz; der Billigjournalismus dazwischen werde verschwinden.
Qualität liefert eine Berechtigung und eine Chance zu überleben, aber keine Garantie. Entsprechend hart sind die Bandagen, mit denen gefochten wird; das hört man nicht nur zwischen den Zeilen. Alles lief nach Plan, resümiert «News»-Chefredaktor Philippe Pfister «seine» erste Woche, und besser, als es die Konkurrenz erwartete: «Wir haben die Leier, <News> biete keinen publizistischen Mehrwert, schon gründlich widerlegt. Mit Stories, die von Nachrichtenagenturen aufgenommen wurden.»
Drei «News»-Ausgaben führen die Zeitungen der beiden Verlagspartner im Untertitel – «Tages-Anzeiger», «Berner Zeitung» und «Basler Zeitung» – die vierte Ausgabe, «News Mittelland», hingegen zielt auf den Aargau und damit auf AZ-Verleger Peter Wanner.
Zuversichtlicher Peter Wanner
Bislang sieht Wanner noch «keine negativen Signale, weder aus dem Werbe- noch aus dem Lesermarkt. Obwohl es erklärtes Ziel ist, uns im Werbemarkt das Wasser abzugraben, wird es <News> schwer haben, sich in unserem Heimmarkt durchzusetzen.» Wanner setzt auf das Vertrauen der Leser – und auf ein eigenes Gratisprodukt, das offenbar im Projektstadium ist: «Eine Realisierung wird erst auf Frühling oder Herbst in Frage kommen, Entscheidungen fallen voraussichtlich Ende Jahr.»
«Skrupellosere Methoden»
Schwelt hier ein Zeitungskrieg? Gilt das Bild des ehrbaren Kaufmanns noch? «Die ehrbaren Kaufleute haben ausgedient, ehrbare Verleger wird es hingegen noch länger geben», behauptet Wanner: «Die Methoden werden skrupelloser.»
Es bleiben noch viele Fragezeichen: Warum konkurrenziert sich die Tamedia selbst? Ihr gehört «20 Minuten», und nun sitzt sie noch bei «News» im Boot. Dort nahm auch der Verlag der «Basler Zeitung» Platz: Ist dies der erste Schritt, um, wie kürzlich die «Berner Zeitung» der übernommenen Espace Media, Richtung Zürich und Tamedia zu driften?
Und es gibt offenbar nur ein Ausrufezeichen: Rette sich, wer kann!
Schlagwörter:Gratisboom, Gratiszeitungen