Politik als Mittel gegen selbstgewählte Abhängigkeit

6. September 2016 • Digitales, Medienökonomie • von

Die Regeln digitaler Kommunikation bestimmen US-amerikanische Konzerne. Die angemessene Antwort ist politisch: eine „Europäische Digitalunion“, die User auch vor sich selbst schützt.

whatsapp„The Media are American“. Vor fast 40 Jahren, 1977, löste der britische Soziologe Jeremy Tunstall eine nachhaltige Debatte über die Dominanz US-amerikanischer Medienkonzerne aus. In dem Buch mit dem Untertitel „Anglo-American media in the world“ beschreibt Tunstall maliziös die Eigentums- und Kontroll-Verflechtungen in einer Zeit, in der über Globalisierung erst in akademischen Zirkeln diskutiert wurde. Sein einleuchtendstes Beispiel war die Filmindustrie Hollywoods, die Europas Filmleinwände nach Belieben dominierte.

Sein Befund schreckte damals auf. In der Folge begann sich die Medienpolitik ernsthaft mit dem Phänomen der Amerikanisierung der Medien zu beschäftigen. In Europa entschloss sich die EU Anfang der 1990er Jahren zu einer Förderstrategie europäischer Filme (MEDIA Programm) und in den Nationalstaaten erließ der Gesetzgeber Anti-Konzentrationsregeln, um die Dominanz einzelner Konzerne zu brechen.

Im Rückblick zeigt sich ein Muster der Medien- und Kommunikationsentwicklung. Neue Technologien und überzeugende Produktideen werden von vifen Geschäftsleuten in den USA auf dem großen heimischen Markt vorangetrieben; erweist sich das Geschäft als profitabel beginnt unverzüglich der Export in den restlichen amerikanischen Kontinent, nach Europa, Ozeanien, Asien und mit Verzögerung auch nach Afrika.

Warum kommt uns das so bekannt vor? Weil wir Zeitzeugen der nächsten US-amerikanischen Exportwelle sind: Diesmal sind nicht die Kinoleinwände der Gegenstand, sondern die elektronischen Bildschirme aller Größen, vom HD curved Bildschirm im Wohnzimmer bis zum Smartphone. Das Geschäft erfasst sowohl die Hardware (u.a. Apples iPhone, Microsofts Surface, Amazons Kindle), als auch die Software. Netflix folgt als jüngstes Beispiel auf Suchmaschinen (Google) und Social Media (Facebook, YouTube, Twitter, Instagram, Snapchat etc.).

Der phänomenale Erfolg dieser Produkte in den USA hat die dahinter stehenden Konzerne zur Globalisierung veranlasst, nach dem von Tunstall vor 40 Jahren beschrieben Stickmuster.

Stephan Russ-Mohl hat in seinem im Standard erschienenen Beitrag „US-Wahl: Mit dem Bullshit-Verstärker zur Präsidentschaft“ vom 5. August 2016 dramatisch die Auswirkungen der digitalen Screen-Revolution beschrieben: Das Zusammenwirken alter und neuer Medien erzeuge eine „Desinformationsökonomie“, der niemand Einhalt gebieten könne. „The Donald“ Trump komme so in den Genuss von Gratisaufmerksamkeit im Milliardengegenwert und, so sei zu befürchten, auf diesem Weg auch ins Präsidentenamt. (mehr dazu auch im EJO-Beitrag „Von Trump am Nasenring herumgeführt“)

Russ-Mohls Alarm steht im Mainstream des aktuellen Kulturpessimismus. Junge Menschen werden zu Smombies (Zombies mit Smartphone), ihr weltanschaulicher Horizont verenge sich auf Echo-Kammern, in denen die User im eigenen Saft vor sich hin schmoren, die herkömmlichen Medien verlieren aufgrund ökonomischer Auszehrung den Biss und können ihre Rolle als Wachhunde der Demokratie nicht mehr wahrnehmen.

Was also ist zu tun? Russ-Mohl lässt es mit der Beschreibung der Zustände und mit der gruseligen Gänsehaut bewenden, die er den Leserinnen und Lesern den Rücken hinunterjagt.

Oettingers Vision einer „Europäischen Digitalunion“

Ganz anders Günther Oettinger, der EU Kommissar, der für (fast) das ganze beschriebene Unheil ressortzuständig ist. Beim Salzburger Telekom-Forum im August 2016 verteidigte der linker Regulierungswut völlig unverdächtige Politiker seinen Aktionsplan, der sich nicht aufs Jammern beschränkt. Seine Vision: eine „Europäische Digitalunion“. Ihre Bestandteile: Investition in die Infrastruktur (500 bis 700 Milliarden EUR seien notwendig), Auf- und Ausbau der Cybersecurity, Re-Industrialisierung Europas unter dem Stichwort „Industrie 4.0“, ein Europäisches Urheberrecht für digitale Werke, vor allem aber eine neu gedachte Data-Economy.

Oettingers Aktionismus kommt zwar reichlich spät, ist aber sehr willkommen. Mit Jeremy Tunstall ließe sich die Kommunikationswelt heute trefflich als „Communications are American“ beschreiben: Mit Google, Facebook, Amazon, Apple und Microsoft (und ihren Tochterunternehmen) sind alle aktuellen Kommunikationsschnittstellen unter amerikanischer Kontrolle. Ob nach der Übernahme von Yahoo und AOL auch noch Verizon in diese Liga aufsteigt, lässt sich wohl bereits in einigen Monaten beurteilen.

Verlust an Einfluss und Kontrolle

Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ist weniger der Umstand störend, dass diese Unternehmen von den USA aus gesteuert und kontrolliert werden, sondern vielmehr der Verlust an Einfluss und Kontrolle über die Form der möglichen Kommunikation. Facebook entscheidet selbständig und willkürlich darüber, wie sogenannte Freundschaften geknüpft und vernetzt werden können, was als Hassposting einzustufen ist und was gesperrt wird. Google reiht nach (kommerziellem) Gutdünken Treffer in der Suchmaschine und kümmert sich nur widerwillig darum, gewaltverherrlichende und rassistische Videos aus seiner Bewegtbildschleuder YouTube zu entfernen – und beruft sich auf das US-amerikanische Verständnis von Medien- und Meinungsfreiheit.

Wer die digitalen Kommunikationshelfer nutzt – und wer kann sich schon entziehen? – muss nach den US-amerikanischen Regeln spielen. Mehr noch: Buchstäblich jede Nutzung hinterlässt auf US-amerikanischen Servern eine Datenspur, die sich je länger je präziser der Person zuordnen lässt. Sind die eigenen Daten einmal preisgegeben, können sie von den Usern weder eingesehen, geschweige denn wieder „eingefangen“  oder verändert werden.

Persönliche Profile

Mit dem Argument, unerwünschte Werbung auszufiltern, erstellen die Datenwächter persönliche Profile: Sie wissen, wer wir sind (Geschlecht und Alter), wo wir sind (für location based services), wofür wir uns interessieren (Surfverhalten), was wir kaufen (z.B. bei Amazon), welche Fotos wir schießen (und auf Instagram aufspielen) und worüber wir uns ereifern (Chats und Postings). Wie unverschämt sich diese Konzerne unserer Daten bedienen, belegt der jüngst bekannt gegebene Zugriff von Facebook auf die hinterlegten WhatsApp Telefonnummern. Zur Erinnerung: 2014 hat Facebook WhatsApp übernommen.

Durch die Nutzung der Dienste (Button: „Akzeptieren“) stimmen wir dem unbeschränkten Absaugen all dieser persönlichen Daten explizit zu. Und tragen so durch unser Verhalten zu der von Russ-Mohl beklagten Perspektivenverengung in den Echo-Kammern aktiv bei. Medien- und Kommunikationspolitik ist (und war schon bisher) zu einem erheblichen Teil Selbstschutz der Menschen. Umfassende Regeln für die Hoheit über die eigenen Daten wäre ein längst überfälliger Anfang. Die Antwort auf die neue digitale Kolonisierung muss politisch sein.

Um auf Jeremy Tunstall zurück zu kommen: Mehr als dreißig Jahre nach dem ersten Buch hat er sein Motiv wieder aufgenommen. Bis 2008 hatte sich die Lage so stark gewandelt, dass Tunstall ein neues Buch mit dem Titel „The Media were American“ vorlegte. Darin zeigte er, dass durch Übernahmen viele Medienkonzerne in europäische, kanadische oder australische Hände übergegangen sind. In Indien und China sind jenseits US-amerikanischer Kontrolle neue Mediengiganten entstanden.

Ohne aktive europäische Medien- und Kommunikationspolitik, so ist zu befürchten, könnte Tunstalls Alterswerk in dieser Serie wiederum zehn Jahre später lauten „American Communications: Forever“. Wir sollten etwas dagegen tun!

Erstveröffentlichung: derstandard.at vom 5. September 2016

Bildquelle: Sam Azgor / Flickr CC: spy-whatsapp-messages; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

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