Das Flüchtlingsdrama im Spiegel der Medienforschung

4. Oktober 2017 • Qualität & Ethik • von

Es kommt stark aufs Thema an, ob die Konsumenten den Medien vertrauen. Dabei war laut einer Studie etwa die Berichterstattung deutscher Medien über den plötzlichen Zustrom von Flüchtlingen nicht so schlecht wie oft behauptet.

Es rächt sich immer wieder, dass es in deutschsprachigen Redaktionen der Mainstream-Medien kaum noch Ressorts gibt, die das eigene Metier, also Journalismus und Medien, beobachten. Offenbar hält sich fast jeder Chefredaktor selbst für einen „Medienexperten“. Jüngstes Beispiel für fatalen Rudeljournalismus sind die ersten wissenschaftlichen Studien, die sich der Berichterstattung über die Flüchtlingskatastrophe widmen. Eine von ihnen – der Hamburger Medienforscher Michael Haller hat sie im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung erarbeitet – erhielt unerwartet grosses Medienecho, allerdings mit einem Tenor, über den Haller entsetzt war. Dabei hatte Haller alles so sorgsam eingefädelt: Um seiner Studie zu Resonanz zu verhelfen, gewährte er der Wochenzeitung Die Zeit zuerst Zugang zu seiner Forschungsarbeit. Seine Überlegung: Das Blatt war nicht Gegenstand der Untersuchung und könne deshalb im Unterschied zu den von ihm untersuchten Tageszeitungen neutral berichten. Doch die Redaktion, inzwischen eben auch auf Clicks im Kampf um Aufmerksamkeit programmiert, titelte in ihrer Vorabmeldung: „Medien haben in der Flüchtlingskrise versagt“. Damit war die Tonalität für die virale Verbreitung vorgegeben. Noch ehe die Studie und auch der viel moderatere Beitrag im Blatt selbst auf dem Markt waren, sorgte der Herdentrieb in den Online-Redaktionen dafür, dass die Botschaft weiter zugespitzt wurde: Der Journalismus habe „völlig versagt“.

Nichts davon stand in der Studie. Haller versichert, es sei ihm nicht um Medien-Bashing gegangen. Seine Erkenntnisse seien tiefgreifender, als dies die Berichte der meisten Medien erahnen lassen: „Die Studie zeigt auf, dass sich der Informationsjournalismus beim Thema Flüchtlinge praktisch nur für die Regierungspolitik, kaum aber für die Situation der in Deutschland angekommenen Flüchtlinge interessierte“, sagt Haller. Und: „Die Medien feierten sich und den liberalen Teil der Bevölkerung als großartige Menschenfreunde. Sie wollten nicht recherchieren und übergingen Skeptiker und Kritiker.“

Bei genauerer Betrachtung kommt das Medienecho also einem Eigentor gleich, wie es Journalisten leider oft schiessen, wenn sie in eigener Sache berichten. Andere, ähnliche Forschungsarbeiten haben dagegen kaum oder gar keine Medienresonanz erzielt – nicht, weil sie minder interessant wären als die von Haller, sondern vermutlich vor allem deshalb, weil sich die Wissenschaftler weniger engagierten, um auf ihre Arbeit aufmerksam zu machen.

Der Mainzer Medienforscher Marcus Maurer bestätigt aufgrund seiner Inhaltsanalyse, dass es bis zum Herbst 2015 einen „sehr positiven“ Tenor der Berichterstattung über Migranten gegeben hat. Die mediale „Willkommenskultur“ sei dann allerdings sehr schnell ins Negative gedriftet, als die zu erwartenden Flüchtlingszahlen ins Astronomische anstiegen. Vollends gekippt sei das Medienklima nach den Terroranschlägen in Paris und der Silvesternacht 2015/16, als es in Köln zu zahlreichen Übergriffen nordafrikanischer Migranten gekommen war, welche die Polizei und die Medien zunächst vertuscht hatten.

Tendenz zur “Willkommenskultur” kippte ins Negative

Maurer hat im Zeitraum von Mai 2015 bis Januar 2016 die Berichterstattung deutscher Leitmedien (FAZ, Süddeutsche Zeitung, Bild sowie Tagesschau, Heute und RTL Aktuell) mit englischen Nachrichtenmedien (Times, Guardian, BBC) verglichen. Der Berichterstattungsumfang sei in Deutschland parallel zum Zustrom der Flüchtlinge stark angeschwollen. Auch hätten die Medien – anders als vielfach von Populisten behauptet – den hohen Anteil junger Männer unter den Migranten nicht verschleiert. Der Anteil der Asylbewerber mit hohem Bildungsabschluss sei sogar real höher gewesen, als in den Medien vielfach dargestellt.

Deutliche Probleme gab es dagegen bei der Berichterstattung über Kriminalität. Maurer konstatiert drastische Verzerrungen zwischen Realität und medialer Darstellung: Während statistisch vor allem Eigentumsdelikte zu Buche schlugen, hätten die Medien in ca. 75 Prozent ihrer Berichte auf Sexual- und Gewaltdelikte fokussiert. Und während in der Kriminalstatistik deutlich mehr Gewaltdelikte von als  gegen Migranten aufscheinen, hätten die Medien häufiger über Gewalt gegen Migranten berichtet als über Gewaltdelikte, die von Flüchtlingen ausgingen. Widersprüchlich sei auch, wie alle untersuchten Medien, insbesondere aber Tagesschau (ARD) und Heute (ZDF), im Saldo ein positives Bild von den Migranten zeichneten, andererseits aber doch weitaus stärker die Gefahren als die Chancen der Zuwanderung akzentuierten – was die Häufigkeitsverteilung betrifft, Heute übrigens besonders deutlich im Gleichschritt mit Bild, und etwas weniger ausgeprägt die Tagesschau im Gleichklang mit RTL Aktuell.

Im Vergleich mit den britischen Medien fiel Maurer auf, dass in Deutschland fast nur von Flüchtlingen die Rede war, während die Leitmedien im Vereinigten Königreich sehr viel genauer zwischen Asylbewerbern, Flüchtlingen und Einwanderern unterschieden. In den deutschen Talkshows dominierten eher die Gäste, die sich für eine verstärkte Zuwanderung aussprachen. Wer sich dagegen positionierte, sah sich auch etwa doppelt so oft „konfrontativem Verhalten“ von Seiten der Moderatoren ausgesetzt als diejenigen, die sich für Zuwanderung stark machten.

Die Chefin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Renate Köcher, zeigte in ihren Befragungen, wie in der Bevölkerung die Stimmung im „Aufregungszyklus“ bereits deutlich vor der Silvesternacht und dem Schwenk der Medien gekippt ist: Bereits im Oktober 2015 waren zwei Drittel der Deutschen der Meinung, die Flüchtlingswelle werde das Land stark verändern. 62 Prozent befürchteten, mit den Flüchtlingen würden auch Terroristen eingeschleust, 57 Prozent hatten das Gefühl, die Politik sei ratlos und Deutschland habe die Kontrolle über seine Grenzen verloren. Die Meinungsforscher registrierten auch eine starke Zunahme „weltanschaulicher Polarisierung“: 41 Prozent halten religiöse Überzeugungen, 45 Prozent „die Grundsätze, nach denen man lebt“ und 60 Prozent der Befragten betrachten die „politische Einstellung“ als das, was die Menschen trennt. Vor sieben Jahren waren das noch halb so viele.

Besonders spannend an der Analyse von Köcher sind Zahlen, die zeigen, wie stark themenabhängig das Vertrauen in die Mainstream-Medien ist: So halten 74 Prozent der Befragten die Berichterstattung über die Situation in ihrer Region für glaubwürdig, 61 Prozent konzedieren dies für die Berichterstattung zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Was die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, betrifft, schenken aber nur noch 30 Prozent der Deutschen den Medien ihr Vertrauen, und bei der Kriminalität von Flüchtlingen sinkt dieser Wert auf 23 Prozent. Diese beiden Forschungsprojekte wurden kürzlich auf einem Symposion zu Ehren von Elisabeth Noelle-Neumann präsentiert, gemeinsam veranstaltet von der Universität Mainz und dem Institut für Demoskopie Allensbach.

Funktionierender öffentlich-rechtlicher Rundfunk fördert Integration

Wie wichtig für die gesellschaftliche Integration ein funktionierender öffentlich-rechtlicher Rundfunk sein kann, wird sodann in an einer Studie von Meighan Stone, Fellow am Shorenstein Center der Harvard Universität, deutlich. Sie hat von 2015 bis 2017 im kommerzialisierten amerikanischen TV-System die wichtigsten Nachrichtensendungen von CBS, Fox und NBC untersucht. Es habe in diesem Zeitraum keinen Monat gegeben, in dem diese mehr positive als negative Stories über Muslime publiziert hätten. Ähnlich negativ sei der Grundton der Berichterstattung über Flüchtlinge gewesen. Das US-Fernsehen habe Integrationsbemühungen seitens der Muslime und Flüchtlinge schlichtweg übersehen. 21 Prozent der Sendezeit über Muslime hätte Donald Trump in Anspruch genommen, die Muslime selbst seien gerade mit drei Prozent Sendeanteil „dabei“ gewesen.

Und auch Forschungsarbeiten wie diese gilt es zu registrieren: Anthony Feinstein und Hannah Storm haben für das Reuters Institute (Universität Oxford) ermittelt, mit welchen psychischen Folgen Reporter zu kämpfen hatten, die sich mit Verve in die Berichterstattung über das Flüchtlingsdrama stürzten. Immerhin 80 Journalisten stellten sich der Befragung. Das kam einer ungewöhnlich hohen Antwort-Bereitschaft von über 70 Prozent der Stichprobe gleich. Zwar sei es unter den Betroffenen nur selten zu Traumatisierung und Depressionen gekommen. Viele Befragte, so die Forscher, hätten indes als Einzelkämpfer gearbeitet und keine einschlägige Erfahrung als Kriegs- oder Krisenberichterstatter mitgebracht. Sie hätten mit Schuldgefühlen gekämpft, den Flüchtlingen mitunter Hilfe leisten wollen, und sie hätten sich bei höchster Belastung nur sehr mangelhaft vom eigenen Medienunternehmen unterstützt gesehen.

Insgesamt zeigt der mediale Umgang mit der Medienforschung zur Flüchtlingsberichterstattung wie im Brennglas, was angesichts geschrumpfter Recherchekapazität und Einflusschancen des Journalismus immer wieder passiert: Einerseits entfesselt und verselbständigt sich viral in den sozialen Medien die Berichterstattung ohne hinreichenden Faktencheck. Andererseits „entdecken“ Journalisten selbst kaum noch wichtige Themen. Ohne Anschubser – die Verhaltensökonomen Richard Thaler und Cass Sunstein würden von „Nudging“ sprechen – verpennt der Mainstream-Journalismus gerade solche Forschungsergebnisse, die er schon aus schierem Eigeninteresse zur Kenntnis nehmen und denen er im Interesse einer funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit zu Publizität verhelfen sollte.

 

Erstveröffentlichung: NZZ vom 30. September 2017

Foto: Gémes Sándor/SzomSzed wikimedia commons

 

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