Die Analyse der Abseitsfalle

14. März 2010 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Weltwoche

Aus aktuellem Anlass etwas Nostalgie. Wir gedenken der Zeiten, als Sport noch Wissenschaft war.

Etablierte Zeitungen haben immer einen abkürzenden Übernamen. Es gibt den «Tagi» und die «Ännzäzätt», den «Sobli», die «Soz» und die «BaZ». So weit ist die «Spowo» noch nicht. Immerhin, seit einigen Wochen hat die Schweiz wieder eine Sportzeitung. Die Sportwoche hat eine Auflage von 75 000 Exemplaren. 5000 Stück davon gehen weg am Kiosk. Der Rest wird über Sportorganisationen und vor Stadien gratis verteilt. Uns gefällt es, dass die Schweiz wieder eine Sportzeitung hat. Es gefällt uns, weil dadurch eine glanzvolle Geschichte weitergeht.

Wenn es der Schweizer Journalismus jemals zu Weltruhm brachte, dann war das im Sport, genauer auf der Redaktion des Sports. Nicht einmal die NZZ erreichte jemals eine solche internationale Reputation.

Der Sport, 1920 gegründet, war ein sogenanntes Fachblatt. Es beschrieb die Welt des Sports in demselben nüchternen Tonfall, in dem andere Fachblätter über Quantenphysik und Humanbiologie berichten. Der brillanteste Kopf des Sports war Walter Lutz, der ab 1964 zwanzig Jahre lang Chefredaktor war. Wenn Sportjournalist Lutz eine Fussballsaison beschrieb, tat er das so präzise und emotionslos, wie ein Mediziner eine Langzeitstudie analysiert.
Der Sport war ein echtes Weltblatt. 1999 starb er einen einsamen Tod. Auf den Grund kommen wir noch zurück.

Vom Boulevard überrollt

Zuerst aber wollen wir etwas in den schönen Zeiten schwelgen. Der Sport erschien täglich. Seine beste Zeit hatte er in den siebziger Jahren. Der Verkauf lag bei über 90 000 Exemplaren. Wenn damalige Spitzenathleten wie Bernhard Russi, Clay Regazzoni und Denise Biellmann siegten, schoss die Auflage auf 120 000 hoch. Damit war der Sport eines der auflagenstärksten Blätter der Schweiz. Es war bei uns damals ähnlich, wie es anderswo heute noch ist. Sportzeitungen gehören meist zu den zwei bis drei größten Titeln eines Landes.

In Italien etwa ist die Gazzetta dello Sport mit einer Auflage von bis zu 500 000 die Nummer drei unter den Tageszeitungen, knapp hinter Corriere della Sera und La Repubblica. In Deutschland kommt die wöchentliche Sport-Bild mit 730 000 nahe an den Spiegel heran. In den USA liegen Sports Illustrated und Time mit je drei Millionen Auflage gleichauf an der Spitze der aktuellen Zeitschriften. In Spanien steht die tägliche Marca mit 330 000 hinter El País auf Rang zwei. Die französische Equipe, Auflage 320 000, rivalisiert mit Le Figaro und Le Monde um die Position der populärsten nationalen Tageszeitung.

Was Sportzeitungen speziell interessant macht, ist ihre Volatilität. Keine andere Gattung hat solche Schwankungen beim Verkauf. Als Frankreich 1998 Fussballweltmeister wurde, verkaufte L‘Equipe am nächsten Tag 1,65 Millionen Exemplare. Als Italien 2006 den Titel holte, gingen gar 2,3 Millionen der Gazzetta über den Tisch.

Unser Sport jedoch hielt sich nicht. Sein Ende wurde nach 1985 ausgelöst durch die scharfe Boulevardisierung des Genres. Der Boulevard überrollte den Sport noch schneller als Wirtschaft und Politik, weil im Sport die Personifizierung noch leichter gelingt. Anstelle einer Analyse von Abseitsfalle und Auswärtstor interessierte sich das Publikum nun für den Streit des Torwarts mit dem Trainer, die Saläre der Stars und das sündige Leben der Spielerfrauen.

Die Wissenschaftler um Walter Lutz schafften diese populistische Kurve nicht. Der Sport, so schrieb Lutz einmal, habe sich dadurch abgehoben, dass er «seriöse Informationen verbreitete und keine Sensationen suchte».
Erfolg mit Seriosität und ohne Sensation. Das müssen seltsame Zeiten gewesen sein.

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